Ukraine

Ein Schtetl bei Kiew

Bunt und zwei Stockwerke hoch steht das neue Schulgebäude auf einem großen Grundstück mitten in der Siedlung Ignatowka bei Kiew. Überall sind Bauarbeiter mit der Innenausstattung beschäftigt. Einer von ihnen ist Igor: »Bald kann hier der Unterricht beginnen«, sagt er.

Auch Chabad-Rabbiner Reuwen Asman ist stolz. »Der erste Spatenstich war Anfang Mai, nun ziehen hier bald die ersten 20 Familien ein«, erzählt er. Bei den neuen Bewohnern handelt es sich um Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine. Die meisten leben seit Monaten in provisorischen Unterkünften in Kiew oder sind bei Familienmitgliedern untergekommen. Ihr neues Zuhause ist ein Blockhaus, das stark an ein Ferienhaus in den Alpen erinnert. Der solide Neubau besteht aus zwei Stockwerken mit je zehn Wohnungen.

bauarbeiten Igor Schneidermann von der jüdischen Gemeinde in Kiew kümmert sich um die Organisation der Bauarbeiten. Er erzählt, dass das Gelände nun Stück für Stück bebaut werden soll. Man plant insgesamt 15 Wohnhäuser, in denen bis zu 500 Menschen ein Zuhause finden sollen. »Die Siedlung war schon länger geplant«, sagt Schneidermann. Neben der Schule und den Wohnhäusern soll später auch ein Museum errichtet werden. Mittlerweile sind bereits mehr als fünf Millionen Euro für das »Anatewka-Projekt« zusammengekommen, die meisten Spender leben in den USA, Kanada und in Israel.

Die ersten Einwohner, die nun bald ankommen, werden für die Unterkunft nichts bezahlen müssen. »Anatewka ist in der ersten Zeit ein Rehabilitationszentrum«, sagt Rabbi Asman. Auch die Mahlzeiten und der Schulbesuch sind kostenlos. »Die Menschen sollen hier zur Ruhe kommen«, so die Pläne. Man will ihnen auch bei der Arbeitssuche helfen.

Durch den Krieg in der Ost-Ukraine sind viele Gemeinden komplett verwaist. »Die Leute sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. Einige leben in Charkiw, Dnepropetrowsk oder in Kiew, die anderen hat es nach Russland oder nach Israel verschlagen«, sagt Asman.

schlüsselübergabe Zur symbolischen Schlüsselübergabe hatte sich vor einigen Wochen hoher Besuch eingefunden: Israels Botschafter in Kiew, Eliab Belotserkowski, ebenso die Chefin des ukrainischen Ministerkabinetts, Hanna Onitschenko, und eine Reihe ukrainischer Parlamentsabgeordneter wie Grigorij Logwinski von der Narodni Front von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk.

Doch nicht bei allen stößt Anatewka auf Sympathie. Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die lieber anonym bleiben wollen, sagen hinter vorgehaltener Hand, das Projekt säe nicht nur Zwist zwischen den Bewohnern des Ortes Ignatowka, sondern habe landesweit Auswirkungen auf die Vertreter jüdischer Gemeinden. Das Land sei nicht nur vom Krieg, sondern auch von einer schweren Wirtschaftskrise geschüttelt. Im Jahr 2014 lag das Bruttoinlandsprodukt bei minus 6,8 Prozent. Für dieses Jahr rechnet die Regierung gar mit einem Rückgang um neun Prozent. Die Inflation liegt bei 55 Prozent, die Lebensmittelpreise stiegen zuletzt um die Hälfte, die bislang subventionierten Strom-, Wasser- und Gaspreise sind seit Mai 2014 bis zu sechs Mal erhöht worden. Nicht nur viele Flüchtlingsfamilien, auch die meisten Durchschnittsbürger der Ukraine müssen sich sehr einschränken.

Sympathisanten der nationalistischen Swoboda-Partei und auch Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft schauen voller Missgunst auf die neue Siedlung. Die Baustelle und die bezugsfertigen Gebäude werden deshalb von mehreren Wachmännern gesichert. In einem olivfarbenen Campingwagen, der auf dem Gelände von Anatewka steht, schieben sie Wache. Einer von ihnen, ein durchtrainierter Kerl mittleren Alters, fragt Fremde, die auf das von einer meterhohen Mauer umgebene Gelände wollen, ob ein »Termin vereinbart worden ist«. Sonst gibt er sich wortkarg, lässt die Besucher aber nicht aus den Augen.

skepsis Igor Schneidermann ist trotz allem hoffnungsfroh. Die neuen Nachbarn, die demnächst in der Siedlung leben, wollten sich von den Alteingesessenen im Ort nicht abgrenzen, sagt er. In der Schule sei beispielsweise Platz für 300 Schüler. So hätten auch die Kinder aus der Nachbarschaft die Möglichkeit, hier zum Unterricht zu gehen. In der neuen Schule sollen vor allem naturwissenschaftliche Fächer unterrichtet werden. »Es gibt hochmoderne, gut ausgestattete Chemie- und Biologieräume, so etwas haben selbst viele Schulen in Kiew nicht«, sagt Schneidermann.

Im Ort Ignatowka selbst sind nur wenige Menschen bereit, über die neue Siedlung zu sprechen. Ein Mann, der sich Alexander nennt und vor den Marktständen im Zentrum steht, sagt knapp: »Ich habe von den Bauarbeiten gehört und mich gewundert, wie schnell sie damit vorankommen.« Schnell dreht er sich um und geht. Eine junge Frau, die mit zwei kleinen Kindern auf einem Spielplatz gegenüber dem Markt spielt, ist skeptisch: »Die wollen doch unter sich bleiben. Das habe ich von mehreren Leuten im Ort gehört«, so ihre Meinung. Und, nein, sie würde ihre Kinder nicht »auf eine Judenschule« schicken, da könnten die Unterrichtsräume und die Lehrer noch so modern sein. »Das sind für uns Fremde«, so das Urteil der jungen Mutter, die sonst nichts über sich verraten will.

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Spanien

Francos Erbe

Das Land, das den Sefardim einst ihren Namen gab, verlangt seinen Juden heute einiges ab

von Valentin Suckut  03.11.2025

»Nobody Wants This«

Alle wollen Esther

Einer der Gründe, die Netflix-Serie zu sehen, ist Jackie Tohn. Die Schauspielerin mit dem Blick, der Stahl schmelzen kann, tanzt gern auf vielen Hochzeiten

von Sarah Thalia Pines  03.11.2025

Slowakei

Neues Leuchten in Trenčín

Eine restaurierte Synagoge wird zum Herzstück der Kulturhauptstadt 2026 – und zum Zeichen jüdischer Erneuerung

von Kilian Kirchgeßner  03.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  03.11.2025

USA

Unsicher in New York

Zohran Mamdani ist der mögliche nächste Bürgermeister der Metropole – und für viele Juden ein Problem

von Mark Feldon  30.10.2025

Judenhass

»Ich werde Selbstmordattentäter diese Nacht«: Mann plante Messerangriff auf Juden

Der arabischstämmige Mann wurde im letzten Moment von der Polizei festgenommen. Nun stand er vor Gericht

von Nicole Dreyfus  30.10.2025

Barcelona

Mordverdacht: Ermittlungen gegen Sohn von Mango-Gründer

Spanischen Medienberichten zufolge sind die Umstände des Todes des Modeunternehmers Isak Andic im Dezember 2024 noch nicht geklärt. Doch es gibt einen Verdacht

 30.10.2025

München

Europäische Rabbiner sagen Baku-Konferenz aus Sicherheitsgründen ab

Rund 600 Teilnehmer aus aller Welt sind angemeldet. Viel Geld war in die Vorbereitung geflossen

von Imanuel Marcus, Mascha Malburg  28.10.2025 Aktualisiert