Buenos Aires

Die Montagsmädchen von San Miguel

Dezember 2018, Neersen am Niederrhein. Schmuck, beschaulich und ein bisschen verschlafen wirkt sie, die Hauptstraße im 7000-Einwohner-Ortsteil der Stadt Willich zwischen Mönchengladbach und Düsseldorf. Wenn nicht gerade Schützenfest, Wochenmarkt oder Festspiele im nahen Schloss stattfinden, sind Menschenansammlungen im Schatten der verklinkerten Häuschen eher selten und sorgen für neugierige Blicke.

An diesem Tag ist Flatterband vor Haus Nr. 59 gespannt. Gunter Demnig verlegt Stolpersteine. Wenige Tage zuvor hat er das 70.000. Exemplar in den Boden eingelassen. Auf einem steht der Name Lore Brieger, geborene Salmons. Die jüdische Willicherin kam hier 1928 zur Welt. Mit 13 Jahren musste sie Deutschland verlassen. Ihr Ziel: Argentinien. Der Anstoß für die Stolpersteinverlegung kam von dem pensionierten Lehrer Bernd-Dieter Röhrscheid. Seit 1988 hat er mit Generationen von Schülern die in der Nachkriegszeit lange totgeschwiegene Geschichte der vertriebenen Juden aus Willich erforscht.

ABSCHIED Doch erst durch einen Tipp aus der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach ist der passionierte Heimatforscher auf das Interviewbuch Ein Stück Deutschland – 49 Deutsch-Argentinische Lebensgeschichten der Journalistin Corinna Below aufmerksam geworden – und darin auf das Kapitel über Lore Brieger aus Willich gestoßen. Viele der Informationen über die Emigrantin waren ihm neu.

Hannah Grünwald kochte deutsch: Sauerbraten, Zunge und Kochkäse.

Corinna Below hat Lore Brieger 2004 in Buenos Aires interviewt, wie auch deren Freundin Hannah Grünwald. Beide sprechen ihre Geschichten ins Mikrofon der NDR-Journalistin aus Norddeutschland, die einen der Enkel von Hanna Grünwald geheiratet hat. »Hanna hat mich sehr fasziniert und tief beeindruckt«, erzählt Corinna Below. In ihrer Wohnung in Buenos Aires stammten fast alle Möbel aus Deutschland – Besteck und Teller aus der alten Heimat, die Hanna Grünwald mehr als 60 Jahre zuvor verlassen musste.

»Sie kochte so deutsch: Sauerbraten, gepökelte Zunge und Kochkäse«, erinnert sich die Journalistin. »Sie dachte deutsch, und sie war durch das deutschsprachige ›Argentinische Tageblatt‹ und die Sendungen der Deutschen Welle über Deutschland immer bestens informiert.«

Im September 1938 wirft Hanna Grünwald aus dem Abteilfenster einen letzten Blick auf Deutschland zurück, als der Zug die Grenze Richtung Luxemburg passiert. In ihrer Heimatstadt Bockenheim an der Weinstraße wie in ganz Deutschland gibt es für die jüdische Familie keine Zukunft mehr. Auf dem Schoß der damals 33-Jährigen sitzt ihre zweijährige Tochter Renate.

In der Schule muss Lore wieder mit der ersten Klasse beginnen.

Angst bleibt auch jetzt ihr ständiger Begleiter. Die Familie ist zwar im Besitz einer der begehrten Einladungen nach Argentinien, einer sogenannten llamada, die ihnen die legale Einreise ermöglicht. Bruder Ludwig lebt bereits in Buenos Aires und hat dafür gesorgt. Doch ob der Dampfer, der sie und Ehemann Fritz in Sicherheit bringen soll, wirklich ablegt, ob Fritz rechtzeitig zu ihnen stößt, bleibt bis zuletzt unklar. Es herrscht Kriegsangst kurz vor dem Münchner Abkommen und dem darauf folgenden Einmarsch der Deutschen ins Sudetenland.

UNGEWISSHEIT Drei Jahre später geht die 13-jährige Lore Salmons von Bord eines aus Lissabon kommenden Dampfers. Es ist mittlerweile Dezember 1941. In Buenos Aires ist es an diesem Tag brütend heiß. Das Mädchen aus dem niederrheinischen Neersen und ihre Stiefmutter gehören zu den Letzten, denen die Ausreise aus Deutschland noch gelingt. Wenige Tage nach ihrer Abfahrt schließen die Nazis die Grenzen für Juden endgültig. Überglücklich schließt Lore ihren Vater in die Arme, der bereits 1938 als Viehhändler nach Argentinien emigriert war. In die Freude mischt sich Ungewissheit. Was wird aus den Großeltern, die in Deutschland geblieben sind?

In Argentinien ist für Lore alles neu. Alles ist anders als in Eisleben, wo sie nach ihrer Abreise aus Neersen drei Jahre lang mit Stiefmutter und Schwester bei den Großeltern, Gustav und Hedwig Mosbach, lebte. Der Großvater ist Kantor der Eislebener Synagoge. Nachdem der Vater 1938 nach Argentinien emigriert ist, warten die Salmons fieberhaft auf die Ausreisepapiere.

Die Autorin ist überrascht, welch ungeahnte Wirkung ihr Buch entfaltet.

In der Lutherstadt sieht die zehnjährige Lore die Plünderer, die am 9. November 1938 zu den Wohnungen jüdischer Bürger ziehen. Die Familie des Kantors wohnt direkt unter der Synagoge. Die Wohnung bleibt unbeschädigt, doch in der Synagoge wüten die Nazis. Lores Großeltern reisen trotz eines Visums für Kolumbien nicht aus, weil sie sich um Tochter und Enkel kümmern wollen. Beide werden im Juni 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Jungen Argentiniern kann Lore von ihren Erlebnissen in Nazi-Deutschland zunächst nichts erzählen, denn sie spricht kein Wort Spanisch. In der Schule muss sie wieder mit der ersten Klasse beginnen. Doch wenn Lore etwas kann, dann ist es Auswendiglernen. Auch wenn sie den Sinn nicht versteht. Egal, für die Schule reicht es: Bald wird sie in die vierte Klasse versetzt. Trotz der Fortschritte bricht sie die Schule ab. Ihr Spanisch wird lebenslang einen deutschen Akzent behalten. Durch Heirat wird aus Lore Salmons Lore Brieger. Ihre Kinder wachsen in Argentinien auf.

HILFSVEREIN Nur Hausfrau zu sein, reicht Lore Brieger nicht. Bereits als Jugendliche arbeitet sie im Kinderheim des Jüdischen Hilfsvereins mit. Als Ehefrau streift sie dann regelmäßig den rosafarbenen Kittel über, Kennzeichen der Ehrenamtlerinnen im »Hogar Adolfo Hirsch«, dem Altenheim der Deutsch sprechenden Juden Argentiniens in San Miguel nördlich von Buenos Aires.

Der argentinisch-jüdische Hilfsverein Asociación Filantropica Israelita Hogar (AFI) hatte das »Hogar Adolfo Hirsch« 1940 gegründet. Rund 170 Bewohner leben hier. Die Senioren verbindet dabei eine gemeinsame Sprache und Kultur, Lebenswege kreuzen sich – und enden hier. Mit ihren beiden Enkeln besucht Lore Brieger später ihre alte Heimat Neersen und schlendert an ihrem Geburtshaus an der Hauptstraße vorbei. Am Niederrhein gefällt es ihr gut. Mehrfach kehrt sie zurück.

Seit Jahrzehnten gehören die Frauen in ihren rosa Kitteln zum festen Bild im Heim.

Die Erinnerung an die ermordeten Angehörigen möchte Lore Brieger lebendig halten. Durch eine Spende ermöglicht sie im Juni 2009 die Verlegung eines Stolpersteins vor dem letzten Wohnsitz ihres Großvaters in der Eisenacher Lutherstraße. Die 80-Jährige reist dazu nach Thüringen. Sie nimmt den Gedenkstein vor der Verlegung noch selbst in die Hand. »Mögen die Stolpersteine ein Mahnmal sein, dass so etwas nie wieder geschieht«, sagt sie. 2013 stirbt Lore Brieger.

EHRENAMT Mitte der 70er-Jahre ist Hanna Grünwald 70 Jahre alt und gerade Witwe geworden. In der Familie erzählt sie gern, wie knapp ihr Gatte Fritz das rettende Schiff 1938 noch erreicht hat. Argentinien hat es danach gut mit der Familie gemeint. Beruflich ging es für Fritz als Kaufmann bald aufwärts. Das Paar bekam zwei weitere Kinder, später kamen Enkel hinzu.

Nach Fritz’ Tod sucht Hannah Grünwald eine neue Aufgabe. Sie findet sie als ehrenamtliche Helferin im Hogar Adolfo Hirsch, zusammen mit ihrer Freundin Lore. Montags fahren sie gemeinsam mit den anderen »chicas del lunes«, den »Montagsmädchen«, nach San Miguel. Aber bloß nicht leger: 25 Jahre lang macht sich die Rentnerin jeden Montag modisch zurecht für ihr Ehrenamt. »San Miguel war für mich immer so etwas wie mein zweites Zuhause«, erzählt sie Corinna Below später. Erst mit 94 Jahren hängt die Seniorin den rosa Kittel schweren Herzens an den Nagel und beendet ihr Engagement.

Bei Familienbesuchen in Argentinien erfährt Corinna Below dank Hannah Grünwald von den anderen deutsch-jüdischen Emigranten und den »Montagsmädchen«. Sie beginnt, die Geschichten aufzuzeichnen. Nun will sie einen Film über die letzten Bewohner drehen, deren Familien einst vor den Nazis flüchteten und lieb gewonnene deutsche Traditionen mit nach Argentinien nahmen.

Seit Jahrzehnten gehören die Frauen in ihren rosa Kitteln zum festen Bild im Heim. Jede hat eine Liste in der Tasche mit den Namen der Bewohner, die wenig oder gar keinen Besuch bekommen und Redebedarf haben. Gern gehen sie mit den Senioren im großen Garten spazieren.

Die »Montagsmädchen« organisieren auch die Beschäftigung: Gemeinsam wird zum Beispiel gehäkelt und auf althergebrachte deutsche Art Marmelade eingekocht. Eine Ehrenamtlerin führt den Kiosk, eine andere leitet eine Theatergruppe. Es gibt eine Synagoge und eine Bibliothek, Konzerte und Lesungen finden statt. Für die Bewohner wirkt es wie ein kleines Stück Deutschland in Argentinien.

ERINENRUNG »Wir hatten das Gefühl, dass die Geschichten festgehalten werden müssen – gegen das Vergessen«, sagt Corinna Below, die die Emigranten damals zusammen mit dem Fotografen Tim Hoppe besuchte. Wenige Monate nach dem Interview starb Hannah Grünwald im Alter von 99 Jahren.

»Die einzelnen Kapitel erzählen von Vertreibung und Flucht, aber auch von Identität, Integration und Heimat – das ist gerade heute hochaktuell«, sagt die Autorin. Auch das über Lore Brieger, das den Hobbyhistoriker Röhrscheid 2018 dazu veranlasst, Corinna Below anzurufen. »Das Kapitel in ihrem Buch hat mich motiviert, mich darum zu kümmern, dass Lore Brieger und ihre Familie endlich Stolpersteine in Neersen bekommen«, sagt Röhrscheid. Röhrscheid lädt die Reporterin im Dezember 2018 auch gleich zur Verlegung an den Niederrhein ein. Die Journalistin sagt zu, sie ist überrascht, welch ungeahnte Wirkung ihr Buch entfaltet. Röhrscheids Anruf gibt ihr den Anstoß, die Manuskripte online zu stellen. Schnell ist eine Internetseite geschaffen.

Die Frauen in Rosa geben den Emigranten ein Stück Heimat.

Doch man könnte noch viel mehr Informationen hinzufügen, wenn sich weitere Quellen finden würden, sagt Below: Fotos, Briefe und Postkarten etwa, die Flucht und Neuanfang der 49 Emigranten dokumentieren. Und die gibt es – nicht nur in den Familien. »Die Archivarin des Holocaust-Museums Buenos Aires, Sarafina Perri, hat mir bereits spannende Dokumente von Ellen Hamburger, einer der 49 Porträtierten, in Aussicht gestellt, die ich demnächst online stellen werde«, erzählt Corinna Below.

CROWDFUNDING Auf der Plattform »StartNext« hat die Journalistin eine Crowdfunding-Kampagne gestartet und sammelt Spenden. Ihr erstes Ziel von 5000 Euro hat sie bereits erreicht. Damit will sie die Website ins Englische, Spanische und Hebräische übersetzen lassen – auch für die Nachkommen.

Kommen insgesamt etwa 20.000 Euro zusammen, will die Journalistin die Mittel nutzen, um im Sommer erneut nach San Miguel zu reisen. Sie will sich zusammen mit der NDR-Kamerafrau Berit Ladewig auf den Weg machen und einen Film über die letzten überlebenden Emigranten drehen.

Unterdessen tragen die Recherchen weiter Früchte in Form von Stolpersteinen. In diesem Jahr sollen Steine für die im Buch porträtierte Ilse Grünwald und deren Familie in Seelze bei Hannover verlegt werden. Ginge es nach Corinna Below, würde jeder der 49 Emigranten mit einem solchen Stein geehrt werden.

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