Zugvögel

Die Meister des Lebens

Julia Zarankin hat das Birdwatching entdeckt. Dabei lernt die kanadisch-jüdische Autorin Überraschendes über sich, ihre Familie – und die Liebe

von Katja Ridderbusch  17.11.2021 14:43 Uhr Aktualisiert

»Vögel haben ihre eigene Agenda«: Buchautorin und Literaturwissenschaftlerin Julia Zarankin Foto: privat

Julia Zarankin hat das Birdwatching entdeckt. Dabei lernt die kanadisch-jüdische Autorin Überraschendes über sich, ihre Familie – und die Liebe

von Katja Ridderbusch  17.11.2021 14:43 Uhr Aktualisiert

Manchmal, wenn sie vor einer Entscheidung steht, die ihr ein bisschen Angst macht, sucht Julia Zarankin Trost bei den Vögeln. »Vögel sind absolut furchtlos«, sagt sie, »das bewundere ich an ihnen.« Schließlich, sagt sie sich in diesen Momenten, fliege ja auch der kleine Waldsänger von Südamerika in die kanadische Arktis und wieder zurück, nur um zu brüten.

Die Beobachtung der Vögel – oder auf Englisch schlicht: »Birding« – hat das Leben der Schriftstellerin und Dozentin für russische Literatur im kanadischen Toronto vor zwölf Jahren heftig umgestülpt. »Vögel haben mich zu einem besseren Menschen gemacht.« Ganz fest und einfach und sachlich sagt sie das, und ohne Scheu vor zu großen Worten.

Birder – so heißen die Hobby-Ornithologen im englischen Sprachraum – das waren für die heute 46-jährige Zarankin bis dahin etwas schrullige Gestalten: weiße mittelalte Männer mit Outdoor-Westen, Regenhüten, Gummistiefeln und Ferngläsern, die in moorigem Gelände herumstaksen, den Kopf stets gen Himmel gerichtet. Eine Outdoor-Weste mit vielen kleinen Taschen habe sie bis heute nicht, sagt sie, aber ansonsten ist sie eine voll ausgerüstete Birderin. Sie besitzt verschiedene Ferngläser und Stative, trägt T-Shirts und Sweater mit Vogelmotiven und nutzt zahlreiche Vogel-Apps auf ihrem Smartphone.

SOLIDARITÄT Außerdem hat sie ein Buch über das Birdwatching geschrieben: Field Notes from an Unintentional Birder – Feldnotizen einer unfreiwilligen Vogelbeobachterin – ein origineller und augenzwinkernder Mix aus Memoiren und Vogelkunde, heiter, informativ, lebensklug, aber niemals belehrend oder weise.
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Zarankin ist eine zierliche Frau mit dickem, glattem, dunklem Haar, das sie an diesem Tag zu einem Zopf zurückgebunden hat, mit einem hellen Lachen und wachen, ruhelosen Augen. Das vergangene Jahr habe das öffentliche Image der Birder radikal verändert, sagt sie, zum Positiven. »Während der Pandemie haben die Menschen mehr Zeit draußen verbracht – und viele haben dabei die Welt der Vögel entdeckt.«

»Auch meine Familie hat eine lange Reise hinter sich – ich gehöre zu einer wandernden Spezies.«

Julia Zarankin

Auch die anschwellende »Black Lives Matter«-Bewegung hinterließ ihre ganz eigenen Spuren bei den Vogelfreunden. Fast zeitgleich mit dem gewaltsamen Tod von George Floyd, der in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota während eines Polizeieinsatzes getötet wurde, löste das Handyvideo eines Vorfalls im New Yorker Central Park eine Welle der Empörung über Alltagsrassismus aus: Eine weiße Spaziergängerin rief nach einem harmlosen Wortgefecht mit einem schwarzen Hobby-Ornithologen die Polizei.

solidarität Der Vorfall führte zu einer Solidaritätsbewegung für »Black Birder« – sowie zu einer Initiative, die die Vögel von ihren historisch überkommenen Namen befreit. Namen, »die teilweise mit einer scheußli­chen Geschichte assoziiert sind, mit Sklaverei, Kolonialismus, Rassismus«, sagt Zarankin.

Die alten Namen werden jetzt durch neue ersetzt, die den besonderen Eigenarten der Vögel gerecht werden sollen. Zum Beispiel: Der McCown’s Longspur – ursprünglich benannt nach einem Offizier der Konföderierten-Armee im Sezessionskrieg – wurde von der Amerikanischen Ornithologischen Gesellschaft in Thick-billed Longspur, zu Deutsch: Dickschnabel-Langspur, umbenannt. »Der Wandel ist im vollen Gang«, sagt Julia Zarankin.

Die Motive von Wandel und Bewegung verbinden auch Julia Zarankins Biografie und Familiengeschichte mit dem Wesen der Vögel und den Freuden der Vogelbeobachtung – und die Autorin verknüpft all diese Aspekte kreativ und kunstvoll in ihrem Buch.

vorfahren Zarankins Vorfahren sind Juden aus der heutigen Ukraine, über Generationen auf der Flucht vor Pogromen und Ausgrenzung. Die Familie des Vaters kommt aus Charkiw, die der Mutter aus Odessa. 1978, da war Julia drei Jahre alt, emigrierten die Eltern mit ihren zwei Töchtern aus Leningrad in der damaligen Sowjetunion – heute St. Petersburg – zunächst nach Wien, ein Jahr später nach Edmonton in Kanada und von dort aus nach Vancouver. Julia sprach weder Englisch noch Französisch. Als sie 13 war, zog die Familie nach Toronto.

Zarankin ging nach der Highschool in die USA, studierte russische Literatur an der angesehenen Brown University in Rhode Island und an der Princeton University in New Jersey, lebte und arbeitete später als Universitätsdozentin in Paris, in Kalifornien und Missouri.

Mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrem Mann Leon – ebenfalls Kind jüdisch-russischer Einwanderer – spricht sie Russisch, in ihrem Alltag wechselt sie mühelos zwischen Englisch und Französisch, und seit einigen Jahren lernt sie intensiv Jiddisch, die Sprache ihrer Vorfahren.

INNENRÄUME Vielleicht habe sie deshalb auch ein besonderes Herz für Zugvögel entwickelt, sagt sie. »Ich fühle mich diesen Vögeln verbunden, denn auch meine Familie hat eine lange Reise hinter sich, und ich selbst gehöre zu einer wandernden Spezies.« In ihrem Buch benutzt sie den Begriff »Zugunruhe«, mit dem der Ornithologe Johann Andreas Naumann im Jahr 1797 die Rastlosigkeit der Wandervögel beschreibt.

Bei all ihrer geistigen Verbundenheit war Julia Zarankin die Leidenschaft für das Beobachten von Vögeln nicht in die Wiege gelegt, zumindest nicht in die soziale. »Ich komme aus einer Welt, die sich weitgehend in Innenräumen abspielt«, sagt sie trocken. Ihre Eltern sind klassische Musiker, sie wuchs auf in Konzert- und Ballettsälen, in Museen und Bibliotheken. Die Wunder der Natur waren eine fremde Sphäre für sie – bis sie an eine Kreuzung in ihrem Leben kam, beruflich wie privat.

Das war im Jahr 2008. In ihrer akademischen Arbeit, in die sie Jahre ihres Lebens investiert hatte, fand sie keine rechte Erfüllung mehr. Ihre erste Ehe mit einem französischen Kommilitonen scheiterte, das Paar ließ sich scheiden. Zarankin kehrte nach Toronto zurück, in die Stadt, die ihr immer zu eng war, die sie immer nur hinter sich lassen wollte. Sie begann eine Beziehung mit Leon, der so ganz anders war als sie: groß, athletisch, passionierter Gewichtheber und Computer-Programmierer, weitgehend eine Art Anti-Nerd.

ESSAY In dieser Zeit suchte sie nach einem Hobby – nicht irgendein Hobby, sondern »etwas, das mir hilft, mich in Geduld zu üben«, sagte sie in einem Gespräch mit ihrer Schwester, das sie in ihrem Buch wiedergibt. »Etwas, das mir Frieden bringt, ohne dass ich Yoga machen muss.«

Es war wohl kein Zufall, dass Zarankin über die Literatur zu den Vögeln und zur Vogelbeobachtung kam.

Es war wohl kein Zufall, dass Zarankin über die Literatur zu den Vögeln und zur Vogelbeobachtung kam. Sie stieß auf den Essay von Jonathan Franzen, »My Bird Problem«, der 2005 im »New Yorker« erschienen war. Darin beschreibt der amerikanische Gegenwartsautor, wie Vögel seinen Blick auf das Leben verändert – und ihn selbst zu einem weniger zynischen Menschen gemacht hätten. »Und da habe ich gedacht: Ich muss das auch versuchen mit den Vögeln«, sagt Zarankin.

Sie schloss sich einer Gruppe von Birdern in Toronto an. Ihr erster Vogel, den sie 2009 als Hobby-Ornithologin sah, war ein Rotflügelstärling, schwarz mit einer markanten roten Zeichnung an der Seite, ein verbreiteter Singvogel in Nordamerika, der zur Familie der Sperlingsvögel gehört. »Das war schockierend für mich«, erinnert sie sich, »schockierend schön«. Sie war Mitte 30, und der Rotflügelstärling sowie viele Vögel seither hätten ihr geholfen, ihre eigene Welt mit neuen, mit neugierigen Augen zu sehen, das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen, das Detail im Alltäglichen.

FITNESSSTUDIO Heute nimmt das Birdwatching viel Raum ein. Sie arbeitet als freie Autorin und Dozentin, schreibt Artikel, nicht nur, aber auch über Vögel, hält Vorträge über russische Literatur, Kunst und Kultur vor lebenslang Lernenden ebenso wie vor Highschool-Schülern, hat vor der Corona-Pandemie auch Kulturreisen geleitet, war mit Gruppen im Kaukasus unterwegs, in Georgien und Aserbaidschan.

Von den Vögeln habe sie sich so einiges über das Leben abgeschaut, sagt sie. Vor allem Geduld. Aber auch, das Jetzt anzunehmen, die Macht des Momentes. »Vögel haben ihre eigene Agenda. Ein bestimmter Vogel fliegt möglicherweise gerade weg, wenn ich plane, ihn anzuschauen. Aber dafür sehe ich einen anderen, unverhofft.«

Und auch über Beziehungspflege habe sie viel bei ihrem Vogelstudium gelernt, schreibt Zarankin in ihrem Buch. »Je länger und intensiver ich die Vögel beobachtete, desto mehr lernte ich, die Unterschiede, die innerhalb einer Spezies existieren – zwischen mir und meinem Mann beispielsweise – zu schätzen.« Immerhin geht sie mittlerweile mit Leon ins Fitnessstudio.

Und umgekehrt hat sie ihren Mann mit ihrer Birding-Leidenschaft ein bisschen angesteckt. Im Mai – Hochsaison für Vogelkundler – steht er immer öfter gemeinsam mit Julia um vier Uhr in der Frühe auf, um auf Vogel-Expeditionen zu gehen. Und rollt nicht mehr die Augen, wenn seine Frau über eBirds, eine Birdwatching-App und Vogel-Datenbank, Benachrichtigungen über seltene Vögel erhält, die nahe Toronto gesichtet wurden – und sich sofort auf den Weg macht.

gemeinsamkeiten Sogar ihre jüdische Identität habe durch die Vogelbeobachtung schärfere Kontur gewonnen, sagt sie. Zwar kommt Zarankin aus einer tief säkularen Familie, sei aber mit einem »klaren Bewusstsein für mein Jüdischsein« aufgewachsen. »Ich habe ein zionistisches Sommercamp besucht, das hat mich sehr geprägt.« Nicht nur spüre sie im Zuginstinkt der Vögel eine Verwandtschaft zu ihrer Familie. Auch sei das Birding für sie eine Art spirituelle Praxis. Vögel zu beobachten, mache ihr bewusst, dass sie Teil von etwas Größerem ist. »Birding hat mich gelehrt, mehr Empathie zu empfinden, das Leben zu achten, behutsam mit der Umwelt umzugehen«, sagt sie. Tikkun Olam – vermittelt durch Vögel.

Schließlich gebe es in der Welt der Vögel interessante soziale Dynamiken. Wenn man zum Beispiel eine Gruppe von Vögeln eine Weile beobachte, könne man bemerken, dass da sehr viel und sehr leidenschaftlich gestritten werde. »Und das ist uns Juden ja auch nicht fremd«, sagt sie mit einem leisen Glucksen.

Der Vorfall im Central Park führte zu einer Solidaritätsbewegung für »Black Birder«.

Je länger und tiefer sich Julia Zarankin in die Welt der Vögel begibt – und sie steht erst am Anfang ihrer Reise –, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckt sie zwischen Vögeln und Menschen. »Ich habe mich schon immer zu dem Sonderbaren hingezogen gefühlt«, sagt sie. »Und Vögel können sehr speziell sein, wie Menschen.«

Die unausweichliche Frage nach ihrem Lieblingsvogel beantwortet sie nur zögerlich, weil es so viele seien, aus unterschiedlichen Gründen. Aber am Ende nennt sie den American Woodcock, die Amerikanische Waldschnepfe. »Weil dieser Vogel sehr komisch aussieht, kompakt, mit kurzen Beinen, einem sehr langen Schnabel und Augen, die ganz nah beieinanderliegen. »Ein bisschen wie ein Unfall der Natur.«

Zugleich ist ihr bewusst: Vielen Beobachtern erscheinen sie und ihre Birder-Freunde selbst wie ein Unfall der Natur, wenn sie morgens um fünf in einer stinkenden Abwasserlagune waten, wie sie in ihrem Buch beschreibt – »das Fernglas gleichsam an die Augen geklebt (…) und eine Armlänge tief in menschlichen Ausscheidungen, nur um einen Blick auf Vögel zu werfen«. Und viele würden sich fragen: Warum? Für Julia Zarankin ist die Antwort klar: Weil die Vögel Meister des Lebens sind.

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