Ägypten

Die letzten Zehn

Die winzige Gemeinde in Kairo begeht Pessach mit einem Mittagessen

von Julia Nikschick  30.03.2015 18:13 Uhr

Wer sie besichtigen will, braucht die Erlaubnis des Tourismusministers: die Ben-Ezra-Synagoge in Kairo Foto: dpa

Die winzige Gemeinde in Kairo begeht Pessach mit einem Mittagessen

von Julia Nikschick  30.03.2015 18:13 Uhr

Wir waren ein Teil dieses Landes», sagt Jean Naggar. Die Stimme der 77-Jährigen ist rau, aber fest. Verbittert ist sie nicht, höchstens unendlich traurig. Jean Naggar ist eine von fast 78.000 Juden, die seit der Gründung des Staates Israel ihr Heimatland Ägypten verlassen mussten. «Meine Familie lebte seit 200 Jahren hier in Ägypten, zuerst in Alexandria und später in Kairo», erzählt Naggar. Zu ihren Vorfahren väterlicherseits gehört die berühmte Bankiersfamilie Mosseri, die beim Bau des King-David-Hotels in Jerusalem half. 1957 flieht die Familie über die Schweiz in die USA, wo Naggar noch heute lebt.

Flucht Sie kann sich noch genau erinnern, wie die Familie ein letztes Mal zusammenkommt. Es ist Pessach. Man liest die Haggada: «Warum ist diese Nacht anders als alle anderen?» Die Familie trinkt Wein, singt, lauscht der Geschichte. Auch vor ihr liegt der Auszug aus Ägypten. Die Flucht vor einem Diktator.

Denn 1956 kommt nach einem Putsch der Militär Gamal Abdel Nasser an die Macht. Mit seinem Versuch, die Verstaatlichung des Suez-Kanals voranzubringen, treibt er Ägypten in den Krieg gegen Großbritannien, Frankreich und Israel. Nasser wird geschlagen und reagiert darauf mit der Vertreibung der verbliebenen Briten, Franzosen und der ägyptischen Juden.

Rund 35.000 Juden flüchteten in Ägyptens Nachbarland. «Man entledigte sich einer ganzen Gesellschaftsschicht», sagt Jean Naggar. Sie sieht darin ein bis heute anhaltendes Problem für Gesellschaft und Wirtschaft. Denn nicht nur einflussreiche und wohlhabende Familien verschwanden aus Kairo, vor allem die Vielfalt der Gesellschaft ging verloren.

Wenige Wochen vor Pessach kamen Soldaten in das Haus, das Naggars Großvater errichtet hatte und das heute die russische Botschaft beherbergt. «Uns wurde befohlen, das Land zu verlassen, so schnell wie möglich», erinnert sich Jean Naggar. Dass die Familie italienische Pässe besaß, stellte sich als Glück heraus: «Juden wurde der ägyptische Pass entzogen. Für sie gab es nur eine Fluchtmöglichkeit: Israel.» Naggars Vater, Joseph Mosseri, musste der Anweisung folgen. «Eines der Ministerien lag damals in der Youssef-Mosseri-Straße, sie hatten sie nach meinem Großvater benannt», sagt Naggar und lacht bitter. «Es war ein Dankeschön für seine Verdienste.» Heute ist die Straße nach einem ehemaligen Statthalter aus dem 10. Jahrhundert benannt.

Geheimdienst Zehn Juden leben heute noch in Kairo, alles Frauen über 60. Vorsitzende der Gemeinde ist Magda Haroun. Interviews gebe sie gerne, sagt sie, aber auf keinen Fall am Telefon. Zu groß scheint die Angst vor dem Geheimdienst, der in Stasi-Manier Telefongespräche belauscht und Briefe vor der Zustellung liest. Ob man in zwei Tagen noch einmal anrufen könne, vielleicht habe sie dann Zeit.

Eigentlich gäbe es zu Pessach ohnehin nicht viel zu sagen, fügt die 63-Jährige hinzu. «Wir halten ein kleines Mittagessen ab, aber keine Sederfeier. Die alten Damen wollen so spätabends nicht mehr aus dem Haus.»

Seit 2013 ist Magda Haroun die gewählte Präsidentin des Jewish Council of Cairo, der erst seit 1996 Frauen als Leiterin an seiner Spitze zulässt. Im Gespräch mit der BBC im vergangenen Herbst sagte sie, sie habe zwei Hauptaufgaben: Zum einen kümmere sie sich um die Versorgung der letzten Mitglieder ihrer Gemeinde, zum anderen versuche sie, das jüdische Erbe in Kairo zu erhalten.

Schon in der Vergangenheit wurden mehrmals Versuche unternommen, einige der wertvollsten Relikte aus der Kairoer Genisa in die USA zu überführen. Das letzte Mal focht Harouns Vorgängerin Carmen Weinstein diesen Kampf erfolgreich aus – nicht ohne dabei mit Dreck beworfen zu werden.

Von der Gruppe «Juden aus Ägypten», die in den USA tätig ist, wurde ihr vorgehalten, sie kümmere sich nicht um die Relikte. Die Gruppe forderte den US-Senat auf, Zahlungen an Ägypten einzustellen, sollte die Regierung in Kairo nicht dafür sorgen, dass die Gegenstände herausgegeben werden. Als Weinstein im April 2013 stirbt, hinterlässt sie ihrer Freundin und Weggefährtin Magda Haroun die Sorge um die Bewahrung der Gemeinde und den Auftrag, die Synagogen nicht zu verkaufen oder abzureißen.

Polizisten Eine der zehn Synagogen steht mitten im Herzen von Kairo. Sha’ar HaShamaim heißt sie, Tor zum Himmel. Wurde 2009 noch offiziell zum Pessachseder in die Synagoge geladen, ist sie heute nur flankiert von Polizei, Geheimdienst und scharfem Geschütz. «Mamnua», ruft einer der Polizisten – verboten. Keine Fotos. Warum nicht? Es sei eben einfach verboten, Besuch und Fotos nur mit Genehmigung des Tourismusministeriums. «Woher kommt ihr?», fragt er neugierig. Deutschland. Er kneift seine Augen zusammen, musternd: «Juden?»

Misstrauen dieser Art ist in der ägyptischen Hauptstadt an der Tagesordnung. Oft führt die Tatsache, Jude zu sein, auch zur Frage des Israeli-Seins oder zur Vermutung, man arbeite für den Mossad. Die Gemeinde war deshalb froh, als sie 2005 den Seder fernab der israelischen Botschaft abhalten konnte. Man wollte klarstellen: Wir sind Juden, aber wir sind ägyptische Juden.

Jean Naggar kann dieses Gefühl nachvollziehen. Ihrer Ansicht nach werden Religion und Nationalität zu oft miteinander vermischt. Sie selbst hat nie wieder daran gedacht, nach Kairo zurückzukehren, zumindest nicht dauerhaft. «Ich habe meinen drei Kindern gezeigt, woher wir kommen. Aber unser Zuhause ist nicht mehr Ägypten.»

All die Jahre ihrer Kindheit habe sie sich in Kairo heimisch gefühlt und als Teil der Gesellschaft. «Erst viel später erkannte ich, dass Heimat nicht dort ist, wo man lebt, sondern wo die Menschen sind, die man liebt.» Für Naggar ist das Land ihrer Kindheit unwiederbringlich verloren. Doch für ihre Enkel hat sie ihre Erinnerungen niedergeschrieben. In Sipping from the Nile (2012) brachte sie ihre Zeit im Land der Pharaonen auf Papier – vielleicht auch ein wenig aus Sorge, dass ihre Nachkommen nie die Möglichkeit haben werden, das Tor zum Himmel zu sehen.

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