Portugal

Die letzten Europäer

Mai 1941. Lissabon, Rua Sociedada Farmaceutica 6. Im nördlichen Zentrum der Stadt, eine kleine verschlafene Straße in einem bürgerlichen Viertel, die typischen Lissaboner Farben. Dort wohnt Hannah Arendt drei Monate und wartet auf ein Schiff in die USA.

Lissabon ist ihre letzte Station in Europa. Ihr Ziel: der neue Kontinent, Amerika. Während im Osten Europas die Juden vernichtet werden, sind sie im Westen zu einem anderen Menschentypus, dem des Flüchtlings, geworden. Im heutigen Lissabon, einer wunderschönen europäischen Stadt, gibt es an diese Zeit so gut wie keine Erinnerung.

Essay Sehr eindringlich hat Arendt in ihrem 1943 veröffentlichten Essay We Refugees (Wir Flüchtlinge) geschildert, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Vor ihren Lissaboner Monaten war sie in Südfrankreich im Lager Gurs interniert, aus dem sie entkommen konnte.

Sie schrieb einige Briefe aus Lissabon, die Auskunft geben über die Situation der Flüchtlinge und das Warten auf ein erlösendes Schiff. Vor allen Dingen das Warten.

Sie schrieb Briefe, die Auskunft geben über das Warten.

Einige Jahre später ist das geeinte Europa aus der Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust mit entstanden, und heute stellt das Flüchtlingsproblem eine der Bedrohungen dieses Projekts dar.

Aber das Schicksal der heutigen Flüchtlinge ist mit dem der jüdischen Flüchtlinge der 40er-Jahre schwer zu vergleichen. Gerade auch, weil das jüdische Flüchtlingsproblem mit der Vernichtung der europäischen Juden endete, genießen Flüchtlinge heute trotz ihrer prekären Situation mehr Rechte und Sympathien als damals.

In den eindringlichen Worten Hannah Arendts aus dem Jahr 1943 zeichnet sich nicht nur das Ende des europäischen Judentums ab, sondern es zeigt sich auch, was es bedeutet, Flüchtling zu sein: »Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch der privaten Welt.«

station Rund 100.000 Flüchtlinge kamen zwischen 1940 und 1944 nach Lissabon, darunter 40.000 Juden und Jüdinnen wie Hannah Arendt. Es war die letzte und fast die einzige Station, von der aus man Europa auf der Flucht vor den Nazis verlassen konnte.

Lissabon war kein Ort des Exils, wie vorher vielleicht Paris.

Berühmt wurde Lissabon als Tor zur Freiheit auch durch den Film Casa­blanca aus dem Jahr 1942. Der Erzähler begann den Film mit einer Szene von Flüchtlingen: »Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wandten sich viele Augen im eingeschlossenen Europa hoffnungsvoll oder verzweifelt der Freiheit Amerikas zu. Lissabon wurde der große Auswanderungshafen, aber nicht jeder konnte direkt nach Lissabon gelangen. Und so entstand plötzlich eine Route, auf der die Flüchtlinge mühsam und auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen versuchten.«

Symbol Einer, der es nicht mehr schaffte, war Walter Benjamin, ein enger Freund Hannah Arendts. Auf dem Weg nach Lissabon beging der vielleicht letzte Europäer im September 1940 in Portbou an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich Selbstmord.

Lissabon wurde zum Symbol dieser letzten Europäer, zur letzten europäischen Station auf dem Weg in die sogenannte Neue Welt. Kein Ort des Exils, wie vorher vielleicht Paris, sondern ein Ort des Wartens, am westlichsten Punkt des europäischen Festlands, das nur in diese Richtung verlassen werden wollte. Alles, was östlich war, Tausende von Kilometern, war eine Bedrohung.

Portugal hatte für Juden seit der Vertreibung und der Inquisition im 15. und 16. Jahrhundert so gut wie keine Bedeutung mehr. Und plötzlich stand es im Mittelpunkt einer weiteren Vertreibung und Flucht.

Mehrere Organisationen wie HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society), eine amerikanisch-jüdische Organisation, die im späten 19. Jahrhundert in den USA gegründet wurde, um die Ausreise von Juden aus dem Russischen Reich zu erleichtern, arbeiteten seit 1940 in Lissabon.

Schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen hatte es sich HIAS zur Aufgabe gemacht, die Ausreise von jüdischen Flüchtlingen aus Europa und ihre Einreise in die USA zu erleichtern.

Einwanderer Eine der Freiwilligen, die für die HIAS auf Ellis Island in New York mit jüdischen Einwanderern und Flüchtlingen arbeitete, war die Dichterin Emma Lazarus. Ihr Gedicht »The New Colossus« wurde zu einem universalen Hilfeschrei für alle Flüchtlinge der Welt und im Podest der New Yorker Freiheitsstatue eingraviert: »Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren«, heißt es da.

Dieser Begriff der »geknechteten Massen« (huddled masses) wurde zum Aufschrei einer neuen verallgemeinerten Politik gegenüber Flüchtlingen. Juden sollten nicht als Juden, sondern als abstrakte Mitglieder der Menschheit geschützt werden. Wie es Arendt in ihrem Aufschrei von 1943 beschrieb: »Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentierten die Avantgarde ihrer Völker. (…) Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr; sie ist verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen.«

Eine kleine Tafel erinnert an Hannah Arendt und die 100.000 Flüchtlinge.

Trotz der prekären Situation schaffte es Arendt, aus Lissabon herauszukommen. Im April 1941 schrieb sie in einem Brief an Salomon Adler-Rudel, der zu dieser Zeit für den Central British Fund for German Jewry in London tätig war: »Aber um die Plätze findet hier eine wahre Schlacht statt. (...) Diese ganze Emigration erinnert mich an das alte gute Spiel ›Mensch ärgere Dich nicht‹, bei dem man würfelt und je nach dem Resultat unerwartet viele Punkte vor- oder zurückrücken muss, oder gar von vorne anfängt.«

Seit Dezember 2018 erinnert eine kleine Tafel im Bürgersteig in der Nähe des Hauses, in dem Hannah Arendt wohnte, an sie und die 100.000 Flüchtlinge in Lissabon. Darauf steht auf Portugiesisch der letzte Satz ihres Essays Wir Flüchtlinge: »Die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Gliedes duldete.«

Am 10. Mai 1941 schiffte sich Hannah Arendt auf der S/S Guine nach New York ein. Damit verließ eine der letzten Europäerinnen den Kontinent.

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  10.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Jerusalem

Zerstrittene Zionisten

Der Zionistische Weltkongress tagt zum 39. Mal seit seiner Gründung im Jahr 1897 durch Theodor Herzl. Doch das Treffen droht zum Fiasko für die Organisation zu werden. Die Hintergründe

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025