Frankreich

Die Kinder von Paris

Vor 70 Jahren wurden die ersten Juden der Hauptstadt in die Todeslager deportiert

von Tilman Vogt  09.07.2012 17:07 Uhr

Gefangenentransporte vor dem Pariser Vélodrome, Juli 1942 Foto: getty

Vor 70 Jahren wurden die ersten Juden der Hauptstadt in die Todeslager deportiert

von Tilman Vogt  09.07.2012 17:07 Uhr

Wie kann Vergangenheit vergegenwärtigt werden? Wann verwandelt sich ritualisiertes Gedenken in leere Routine? Diese Fragen des richtigen Erinnerns sind weiter offen. Angesichts von Gedenktagen stellen sie sich ganz praktisch, so wie dieser Tage in Frankreich. Am 16. Juli jährt sich zum 70. Mal die berüchtigte Razzia des Vélodrome d’Hiver, die mit der Verhaftung von 13.000 Pariser Juden in Frankreich den Beginn der Deportation in die Todeslager markiert.

Der Name des Ereignisses verweist auf die mit Zuschauertribünen ausgestattete Halle für Radwettkämpfe, in der rund 7.000 vor allem staatenlose und ausländische Juden nach der Verhaftung fünf Tage lang unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht wurden. Im Anschluss daran wurden sie in das Zwischenlager Drancy deportiert.

Razzia Gegenüber dem Eiffelturm, wo früher das Vél d’Hiv stand, befindet sich heute ein Gebäude des Innenministeriums. Dies ist nicht ohne bittere Ironie, denn die Razzia wurde nicht von den deutschen Besatzern geplant und ausgeführt, sondern von der französischen Polizei, die dem Vichy-Regime unterstand. Die französischen Beamten »übertrumpften« die deutschen Vorgaben sogar, indem sie die von den Besatzern zuerst nicht vorgesehenen Kinder mit auf die Verhaftungslisten setzten.

Das in Frankreich lange gehegte Selbstverständnis einer im Widerstand gegen die Nazis vereinten Nation wurde durch dieses Beispiel der offiziellen Beihilfe zum Mord schwer erschüttert und deshalb gern verdrängt. Nachdem François Mitterrand jede Mitverantwortung seines Landes für die Verbrechen noch kategorisch verneint hatte, rang sich 1995 mit Jacques Chirac zum ersten Mal ein französischer Präsident zu einer Entschuldigung im Namen des Staates durch.

Seit 2000 wird am Sonntag nach dem Jahrestag der Razzia landesweit der »Nationale Erinnerungstag für die Opfer der rassistischen und antisemitischen Verbrechen des französischen Staates« begangen. So auch in diesem Jahr. Am 16. Juli versammelt sich die Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs zu einer Gedenkveranstaltung am Ort des ehemaligen Radstadions.

Schicksal Außerdem werden in vielen Pariser Arrondissements Vorträge, Kundgebungen, Filmaufführungen und Ausstellungen zu Einzelschicksalen vorbereitet. Das Pariser Rathaus stellt unter dem Titel »Es waren Kinder« Dokumente, Fotos und Zeitzeugenberichte aus, um an das Schicksal der 4.000 im Zuge der Razzia von ihren Eltern getrennten Kinder zu erinnern, von denen nur wenige Hundert aus den Lagern zurückkehrten. Der bekannte Holocaustforscher und Nazijäger Serge Klarsfeld unterstreicht diesen Fokus der Erinnerung an die Geschehnisse vor 70 Jahren: »Die Kinder sind die Hauptfiguren dieser Geschichte.«

Die Gegenwart des Antisemitismus in Frankreich lässt Zweifel an der Qualität des Erinnerns aufkommen. Die derzeitige Gedenkpraxis scheint nur wenig gegen die gehäuften Attacken ausrichten zu können, die sich derzeit vor allem gegen jüdische Kinder und Jugendliche richten.

Der Anschlag von Toulouse im März wirkte dabei als eine Art Zünder: Anfang Juni wurden bei Lyon drei jüdische Jugendliche mit Messern und Eisenstangen derart zugerichtet, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Und nicht einmal die Schule Ozar Hatorah, vor der der Anschlag verübt wurde, kommt zur Ruhe: 1.350 antisemitische Anrufe gingen dort seit März ein, während einer ihrer Schüler, der das Attentat miterleben musste, vergangene Woche in einem Zug mit Schlägen und Tritten traktiert wurde.

Es zeichnet sich mehr und mehr ab, dass sich die potenziellen Täter gegen die viel beschworenen Lehren aus der Vergangenheit immun zeigen. Bei zahlreichen französischen Juden weckt diese Entwicklung grausige Erinnerungen.

Interview

Lachen in Zeiten des Krieges

Der Comedian Modi über eine Pause vom Horror und die Kraft der »Moshiach Energy«

von Sophie Albers Ben Chamo  03.12.2023

Dubai

Nazi-Vergleich: Bundesregierung kritisiert Kolumbiens Präsidenten

Das Außenamt wirft Gustavo Petro inakzeptable Äußerungen vor

 02.12.2023

Porträt

Ex-Außenminister der USA und Graue Eminenz der Weltpolitik

In Fürth geboren - in der Welt zu Hause: Henry Kissinger ist im Alter von 100 Jahren gestorben

von Joachim Heinz  30.11.2023

Nachruf

Henry Kissinger ist tot

Der frühere Außenminister mit deutsch-jüdischen Wurzeln wurde 100 Jahre alt

von Julia Naue  30.11.2023

Tschechien

Ziemlich beste Freunde

Prag ist ein enger Verbündeter Israels – dies hat eine lange Tradition

von Kilian Kirchgeßner  29.11.2023

Russland

Kremlinterne Antisemitismus-Studie geleakt

Mehrere Umfragen zeigen das manipulative Spiel mit dem Judenhass

von Alexander Friedman  29.11.2023

USA

Wenn Hummus essen politisch wird

Eine neue Initiative wirft der israelischen Küche Kolonialismus vor und ruft dazu auf, Speisen und Restaurants zu boykottieren

von Dana Wüstemann  28.11.2023

London

Tausende gegen Antisemitismus

Auch der frühere Premierminister Boris Johnson beteiligte sich

 27.11.2023

Großbritannien

BBC-Mitarbeiter dürfen nicht zu Demo gegen Antisemitismus

Der Sender hat auch jüdischen Journalisten untersagt, an einem Protestmarsch am Sonntag in London teilzunehmen

 24.11.2023