UKRAINE

Der Präsident als Serienstar

Es ist keine leichte Zeit für den ukrainischen Präsidenten Wolody­myr Selenskyj, der sich im re­alen Leben in der Mitte seiner Amtszeit befindet. Am Rande des großen Konflikts mit dem reichsten Unternehmer des Landes, Rinat Achmetow, sowie der schwankenden Umfragewerte gab der 43-jährige Ex-Schauspieler und Fernsehproduzent bei seiner regulären Pressekonferenz am Freitag ein äußerst nervöses Bild von sich. Der jüdische Staatsmann duzte zwischenzeitlich die Journalisten und vermittelte den Eindruck, er fühle sich von seinen Kritikern beleidigt.

Ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit landet Selenskyjs Fernsehserie Diener des Volkes, die zwischen 2015 und 2019 im Sender 1+1 des jüdischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj ausgestrahlt wurde, mit deutschen Untertiteln in der Mediathek des deutsch-französischen Kultursenders ARTE.

Die letzte Staffel der Serie hatte Einfluss auf seinen Wahlerfolg vor zweieinhalb Jahren.

Die Satire-Serie, in der Selenskyj einen Geschichtslehrer spielt, der vollkommen unerwartet zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird, spielte bei seinem Wahlsieg im Frühjahr 2019 eine nicht unwesentliche Rolle. Denn die letzte Staffel lief kurz vor den Präsidentschaftswahlen und diente vor allem Wahlkampfzwecken: Die Präsidentschaften der offensichtlichen Prototypen von Petro Poroschenko und Julia Tymoschenko, Selenskyjs realen Wahlgegnern, enden in der Serie in einem Desaster – und es ist Selenskyj, der das Land wieder vereint.

TRÄUME Als die Serie 2015 an den Start ging, existierten Selenskyjs Präsidentschaftsambitionen vermutlich höchstens in den Träumen seiner Umgebung. Daher ist das, was Diener des Volkes am Anfang liefert, in erster Linie ein vollkommen unrealistisches Märchen. Denn es geht tatsächlich um den einfachen Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko, der im Alter von 37 Jahren immer noch bei seinen Eltern und von einem armseligen Gehalt lebt. In einem Gespräch mit einem Kollegen kritisiert er in harscher Sprache die Politik der aktuellen Regierung. Ein Schüler filmt heimlich mit – und stellt das Video ins Internet.

Als Holoborodko am nächsten Morgen aufsteht, ist er im ganzen Land bekannt. Ohne dass er daran mitwirkt, wird einige Wochen lang per Crowdfunding für seine Präsidentschaftskampagne Geld gesammelt. Kurz danach gewinnt er tatsächlich die Wahlen.

Doch Holoborodko hebt nicht ab: Er fährt weiterhin mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit – im klaren Gegensatz zum realen heutigen Präsidenten Selen­skyj, der auf seine Präsidentschaftseskorte angeblich aus Sicherheitsgründen nicht verzichten will.

privilegien Im Film hingegen verzichtet er auf alle möglichen Privilegien und beginnt einen Krieg gegen korrupte Politiker, Beamte und drei im Hintergrund wirkende Oligarchen, die sehr den real existierenden Unternehmern Rinat Achmetow, Wiktor Pintschuk und Ihor Kolomojskyj ähneln.

Obwohl die Serie in Kolomojskyjs Sender lief, wurde seine fiktive Kopie Mychajlo Rojsman – ebenfalls mit einem typisch jüdischen Familiennamen ausgestattet – kaum geschont. Im Film ist er, ähnlich wie der wirkliche Kolomojskyj, Eigentürmer der wichtigsten ukrainischen Fluggesellschaft und besitzt eine Bank sowie einige Ölfirmen. In Bezug auf Rojsman wird im Diener des Volkes am Rande auch der eine oder andere Witz über seine jüdische Herkunft gemacht. Präsident Holoborodko hingegen ist, anders als im echten Leben, nicht jüdisch.

Das Oligarchen-Trio agiert im Hintergrund und versucht mithilfe des erfahrenen und korrupten Ministerpräsidenten dem neuen Staatschef die Spielregeln beizubringen. Die Großunternehmer scheitern jedoch an dieser Aufgabe, auch wenn sie durchaus Zwischenerfolge feiern, sodass Holoborodko an einem bestimmten Punkt sogar ins Gefängnis muss.

superhelden Genau in dem Moment, in dem der vorerst Superhelden-ähnliche Holoborodko auf die tatsächliche politische Realität trifft, nimmt die Serie richtig Fahrt auf. Denn neu im Amt tritt der neue Präsident überentschlossen auf: Er entlässt Beamte, ernennt Menschen von der Straße für Schlüsselposten und erfüllt im Grunde genommen alle Wünsche des ukrainischen Otto Normalverbrauchers, der davon träumt, dass mindestens die Hälfte der aktiven Politiker ins Gefängnis kommt.

Dass dies nicht gut gehen kann, ist vorprogrammiert – und dass die Serie sehr deutlich macht, wie stark diese Träume von der Realität entfernt sind, ist eine ihrer größten Stärken – selbstverständlich bis auf die letzte Staffel, die doch einem bestimmten politischen Ziel diente.

Diener des Volkes ist auch deswegen zu empfehlen, weil es keine typische Abbildung ist, in der die Politik überwiegend schlecht und die sogenannten einfachen Leute gut dargestellt werden. Selbstverständlich bekommen Politiker und Oligarchen in der Serie mehr als der Rest der Gesellschaft ihr Fett ab, doch die Kritik an den Zuständen ist keine Einbahnstraße, und die Bürger werden für die Lage im Land durchaus mitverantwortlich gemacht.

Eine weitere Stärke der Serie ist, dass sie nicht zu sehr Ukraine-Spezifisches abbildet, sondern die Situation in den meisten postsowjetischen Ländern widerspiegelt – bis auf die ungewöhnliche ukrainische Meinungs­pluralität, die zum Beispiel von den Zuständen in Russland und Belarus meilenweit entfernt ist.

Anders als im Film war der wirkliche Selenskyj vor seiner Wahl durchaus wohlhabend.

Wie passt jedoch der echte Präsident Wolodymyr Selenskyj, der prominent in den Pandora Papers auftaucht und doch eine klare Verbindung zu Ihor Kolomoj­skyj hat – obwohl diese kleiner als angenommen ist –, mit der Kunstfigur des Wassyl Holoborodko zusammen? Der Vergleich ist schwierig, denn Selenskyj war als Inhaber der Produktionsfirma Kwartal 95 bereits vor seiner Wahl kein armer Geschichtslehrer, sondern ein erfolgreicher und durchaus wohlhabender Unternehmer. Dennoch hilft Diener des Volkes enorm, die politische Realität in der Ukraine besser zu verstehen, auch wenn die Serie an manchen Stellen übertrieben ist.

WAHLSIEG Doch genauso, wie man die Rolle, die der Film für Selenskyjs Wahlsieg spielte, nicht unterschätzen sollte, darf man sie auch nicht überschätzen. Die oft viral gegangenen Reden des fiktiven Präsidenten Holoborodko haben den Wählerwillen der Ukrainer beeinflusst.

Selenskyj war aber auch vor Diener des Volkes der mit Abstand größte Star der ukrainischen Satire und trat bei der Wahl 2019 mit einer von vielen unterstützten versöhnlichen Agenda auf – im Gegensatz zum patriotischen Slogan »Armee! Sprache! Glaube!« seines Vorgängers Petro Poroschenko.

Nicht zuletzt wurde Selenskyj in der Hoffnung auf eine liberalere Geschichts-, Kultur- und Sprachpolitik gewählt. De facto aber übernahm er Poroschenkos Linie, was zu den Hauptgründen der aktuellen Krise um Selenskyj gehört. Dass er nicht ganz dem Ideal des Wassyl Holoborodko entspricht, ist dabei ein zweitrangiges Problem.

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