Nachruf

Der Junge mit der Nummer 42649

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.
Shlomo Graber Foto: Katrin Diehl

Vor 81 Jahren hatte Shlomo Graber seine Mutter, seine drei kleinen Geschwister und die Großmutter zum letzten Mal gesehen. Eine Stunde, bevor sie in die Gaskammern von Auschwitz geschickt wurden. Der damals fast 18-jährige Junge wurde an der berüchtigten Rampe des Konzentrationslagers für immer von seiner Familie getrennt. Er wog nur noch 29 Kilogramm, ausgemergelt von Zwangsarbeit und Hunger.

Die Nazis sortieren Graber und andere junge Männer aus. Kurz vor der Gaskammer bemerkte er, wie ein SS-Scharführer einen Tisch auf den Schultern trug. Graber fragte ihn, ob er ihm beim Tragen helfen könne. Das rettete ihm das Leben - genauso wie das Wunder, dass er einen Todesmarsch überlebte.

Mit Ausnahme von ihm und seinem Vater wurde die ganze Familie von den Nationalsozialisten ermordet, beide wurden am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit. Wie Graber vor etwas mehr als einem Jahr in einer Sendung des SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) sagte, habe er die Bilder noch genaustens im Kopf: »Wir sahen, wie russische Soldaten die Stacheldrahtzäune durchschnitten. Aus Dank überhäuften wir sie mit Küssen.« Es war das erste Mal seit langem, dass Shlomo Graber weinen musste.

Überzeugter Pazifist

Der spätere Künstler und Buchautor wurde 1926 im heute ukrainischen und damaligen tschechoslowakischen Majdan geboren. Er wuchs zusammen mit seinen drei Geschwistern in Ungarn auf. 1941 wurde die Familie Graber als Staatenlose zunächst nach Polen, später ins Ghetto und im Frühjahr 1944 nach Auschwitz deportiert.

Shlomo Graber folgte dem letzten Rat seiner Mutter – »Liebe ist stärker als Hass« – und machte daraus sein Lebensmotto. 1948 wanderte er nach Israel aus und diente dort zunächst als Soldat. Er wurde überzeugter Pazifist und gab, wie er selbst sagte, »nie einen Schuss ab«. Später arbeitete Shlomo Graber als Einkäufer bei einer Elektronikfirma, deren Inhaber er schließlich wurde, und gründete seine eigene Familie.

Als er in den Achtzigerjahren auf Geschäftsreise in die Schweiz kam, lernte er seine zweite Frau Myrtha kennen. 1989 zog er zu ihr in die Schweiz und so wurde Basel zu seiner Wahlheimat. Graber begann sich dort der Malerei zu widmen, was ihn an seine Familie erinnerte. Der Großvater und die Mutter waren beide Künstler. Grabers Werke zeichneten sich durch einen impulsiven Pinselstrich, helle und farbenfrohe Bildkompositionen aus. Seine Gemälde wirkten oft dynamisch und strahlten Positivität aus, im klaren Gegensatz zu den dunklen Erfahrungen der Vergangenheit.

Lebensfreude als Motor der Erinnerung

Viele seiner Werke wurden in der »Galerie Spalentor«, die Graber zusammen mit seiner Frau Myrtha in der Basler Altstadt führte, ausgestellt. Durch sie wurde er auch angeregt, sich einer lokalen Künstlergruppe in Basel anzuschließen. Es folgten erste Ausstellungen, bald fand er mit über 200 Besuchern großen Zuspruch für seine Bilder.

Graber selbst betrachtete sie als Ausdruck seiner inneren Haltung. Sie oszillierten zwischen Lebensfreude, Gegenwart und Hoffnung, ohne jemals die Erinnerung an das Vergangene zu verwischen. Die Kunst war es, die Graber half, sich auszudrücken und den eigenen Lebensweg zu verarbeiten – genauso wie das Schreiben.

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Erst 2001 begann Graber, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und in mehreren Büchern festzuhalten. Unter dem Titel »Der Junge, der nicht hassen wollte« kam 2018 sein letztes Buch heraus. Seine Zeitzeugenschaft gab der Künstler und Autor in Vorträgen weiter und besuchte dafür Klassenzimmer für Klassenzimmer. Für sein Engagement wurde Graber vielfach geehrt: 2015 empfing ihn Bundespräsident Joachim Gauck in Berlin, 2023 verlieh ihm die Stadt Görlitz die Ehrenbürgerschaft.

Shlomo Graber hat mit seinem Leben ein bleibendes Vermächtnis hinterlassen: Durch Kunst, Worte, vor allem aber durch Menschlichkeit hatte er die leisen, aber wichtigen Botschaften von Versöhnung, Widerstandskraft und Hoffnung in die Welt getragen. »Hass vergiftet die Seele« waren Grabers eigene Worte, denen er treu blieb. So gingen für ihn Vergebung und Erinnerung Hand in Hand und dienten der Prävention gegen Hass und Extremismus.

Shlomo Graber starb am 24. August 2025 in Basel. Seine Lebensgeschichte ist Mahnung und Inspiration zugleich.

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