Zu der Zeit, als der berühmte Kabbalist Rabbi Löw der Gemeinde der alten Stadt Prag diente, litten die Juden unter Verfolgung. Um sie zu schützen, erschuf der Rabbi den Golem aus dem Lehm am Ufer des Moldau-Flusses, und die Kreatur, das Wesen, bevor es eine Seele hat, tat wie befohlen …
Auch heute wünschen sich viele fast täglich einen Golem. Einen Aufpasser und Beschützer, der alles Unheil abwendet, der Lügner und Hetzer zum Schweigen bringt, der ein friedliches, angstloses Leben ermöglicht. Unter dem vor 500 Jahren geborenen Maharal von Prag und Helden der berühmtesten Golem-Sage soll es ja geklappt haben, und auch während der Schoa, als die Nazis sich in Berlin angeblich nicht auf den Friedhof Weißensee trauten, weil sie den Golem fürchteten, der dort umgehen sollte.
Der Golem verspricht Rettung, und das fasziniert, seitdem er erstmals in der Mischna Erwähnung fand. Immer wieder gab es Geschichten über Rabbiner, die Lehm Leben einhauchten, wie Gott einst Adam. Anders als der kann ein Golem allerdings nicht sprechen und ist auch sonst ziemlich limitiert. In Europa war es vor allem Gustav Meyrinks gleichnamiger Roman von 1915, der von Löw und seinem stummen Diener erzählte, dessen Erfolg das Wesen aus Staub und Worten auf eine Stufe mit Bram Stokers Dracula (1897) und Mary Shelleys Frankenstein (1818) stellte – wobei Letzterer ganz offensichtlich von der jüdischen Legende inspiriert war.
Jüdische Folklore
Achim von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff schrieben gleich offen über ihn – sowie Chaijm Bloch und Gershom Scholem, Elie Wiesel, Karel Čapek und Stanisław Lem. 1969 veröffentlichte der »Forward« Isaac Bashevis Singers jiddische Folklore-Version, die 1982 ins Englische übersetzt wurde. Und an der Altneuschul in Prag, auf deren Dachboden der wieder leblose Lehmklumpen seit damals liegen soll, ist der Golem neben Kafka das lukrativste Merchandise-Geschäft.
Der bisher schönste,
jedoch auch gefährlichste Golem ist eine Frau.
Tatsächlich vergeht bis heute kein Jahr ohne einen neuen Golem – ob Film, Buch, Theater, Graphic Novel, Computer- oder Brettspiel: Staub und Worte beflügeln seit Jahrhunderten die Vorstellungskraft. Dabei ist es bisher keinem Golem so gut ergangen wie 2006 dem in der Kulttrickserie The Simpsons: Nicht nur, dass Lisa ihn sprechen ließ, er bekam sogar eine Gefährtin und durfte heiraten. Deutlich düsterer ging es 1997 in der Akte X zu, in der Folge »Kaddish« rächt ein Golem den Mord an einem Juden durch Neonazis. »Die Golem-Mythologie hat mich schon immer gefesselt. Wir hatten uns (in Akte X) nie mit den Schrecken des Antisemitismus und der Macht des Wortes auseinandergesetzt. Und da ich Jude bin, war das für mich persönlich ein sehr bewegendes Thema«, sagte denn auch der Produzent Howard Gordon.
Den Comic-Helden The Thing, Mitglied wie Mitgründer von Marvels Fantastic Four, haben sich 1961 Stan Lee und Jack Kirby ausgedacht, und er ist definitiv Golem-inspiriert, allerdings hat er »ein Herz aus Gold«. Auch die Golems im Computerspiel »World of Warcraft« weichen ab vom Original, Zwerge haben sie mal aus Stein, mal aus Eisen gebaut, und sie sind vor allem Monster, die ihren Herren aufs Wort gehorchen, womit wir beim modernsten Golem sind: der Künstlichen Intelligenz.
Gefahr der menschlichen Hybris
Auch bei der geht es – wie beim staubigen Original – um die Gefahr der menschlichen Hybris, gottgleich Leben erschaffen zu wollen, und von ebendem erledigt zu werden, wenn es Amok läuft oder einen eigenen Willen entwickelt. Bestes Beispiel dafür ist der bisher schönste, aber eben auch gefährlichste Golem. Eine Frau namens Ava, natürlich. Mit dieser Mensch-Maschine hat Autor und Regisseur Alex Garland in seinem Kino-Meisterwerk Ex Machina von 2015 Gott vollends aus der Gleichung genommen.
Vielleicht sollten die modernen Kabbalisten und KI-Entwickler sich rückbesinnen. Wenn nicht 500, dann doch zumindest 60 Jahre. 1965 baute das Weizmann-Institut in Israel einen neuen besonders leistungsfähigen Computer, dem Gershom Scholem, der renommierte Gelehrte für jüdische Mystik, den Namen »Golem Aleph« gab. In seiner Rede auf der Einweihungsfeier verglich Scholem den Golem von Prag mit dem aus Rehovot: Er bezweifle, dass der alte Golem seine Fehler korrigieren konnte. »Der neue Golem scheint in gewisser Weise lernfähig zu sein und sich verbessern zu können. Das macht die modernen Kabbalisten erfolgreicher als die alten, und dazu kann ich ihnen gratulieren.«
Er schloss mit den Worten: »Entwickle dich friedlich und zerstöre nicht die Welt. Schalom!«