Niederlande

Der Allround-Händler

Nein, man fährt an diesem Ort unmöglich vorbei. Schon wegen der Begrüßungsarmada nicht, die vor dem offenen Tor der riesigen Lagerhalle steht: zwei langmähnige Löwen aus Marmor, lebensgroß und bemerkenswert kitschig. Die Mäuler haben sie aufgerissen, und zu Füßen des linken duckt sich ein verdutzt dreinschauendes Junges. Auf dem Sockel zwischen den Löwen sitzt ein fetter Buddha. Er hat riesige Ohrläppchen und lächelt selig. Lässig hebt er die rechte Hand, was wie der Gruß eines alten Hippies anmutet.

Wer um die Marmorfiguren herumgeht, findet dahinter die Kasse, und dort steht, wie jeden Tag, der Chef, Gideon Italiaander. Er trägt eine dicke, dunkelrote Jacke mit falschem Pelzkragen, seit zehn Jahren ein Standard-Accessoire im Amsterdamer Winter. Das kurze Haar beginnt, an den Seiten ein wenig grau zu werden, doch das Gesicht ist jungenhaft, und durch die Züge gleitet oft ein Grinsen. Zum Beispiel, wenn er eine gute Anekdote erzählt.

»Die Löwen«, sagt Italiaander, »stammen aus dem Nachlass eines erschossenen Kriminellen. Kurze Zeit später haben zwei Männer sie gekauft. Sie bezahlten 20.000 Euro, kamen aber nie mehr zurück. Wahrscheinlich sitzen sie selbst im Knast. Seither warten die Statuen darauf, dass jemand sie abholt.«

Hauptquartier Willkommen in der Welt von Gideon Italiaander, dem wahrscheinlich bekanntesten Allround-Händler Amsterdams. Sein Hauptquartier liegt in Sichtweite der viel befahrenen Straße, die aus dem Zentrum nach Süden führt, nach Buitenveldert, wo die meisten Juden Amsterdams wohnen.

Doch von alldem wähnt man sich weit entfernt in dieser ungeschminkten Ecke der Stadt. Die Straße ist teils gepflastert, verlassene Schienen kreuzen, Überbleibsel eines längst stillgelegten Vorstadtbahnhofs, gegenüber liegt eine Tankstelle – ein ganz und gar weißer Fleck auf der städtischen Landkarte der Projektentwicklung.

Es ist ein gewöhnlicher Dienstagvormittag. Der Winter hängt grau und träge über Amsterdam. Kalt ist es auch, und zwar umso mehr, je weiter man sich ins 1500 Quadratmeter messende Italiaandersche Archipel vorwagt. Auf Stangen hängen Jacketts für 15 Euro und Hosen für fünf, daneben türmen sich palettenweise Dosen mit Haargel und Kartons voller Wein aus Südafrika, weiß und rot, zwei Euro die Flasche. Im schummerigen Licht geht es weiter an Second-Hand-Elektronik und gebrauchten Lampenteilen vorbei zu Möbeln und Gemälden in großen, hölzernen Kisten.

Vielleicht ist es ein gutes Zeichen für einen Betrieb, wenn sich dessen Wahlspruch bei einem Besuch von selbst erschließt. Wenn der Satz »Gideon Italiaander (ver)kauft fast alles« quasi mit jedem Schritt, den man in diesem Sammelsurium aus neuen und benutzten Gegenständen setzt, eine plastischere Dimension erhält.

Vor der Rückwand leuchten einem gelbe Plastikrosen entgegen, so groß wie ein Erstklässler, und oben, fast unter der Decke, baumeln Rollkoffer, Kronleuchter und Kinderfahrräder von Stangen herab.

»Ein völlig ungeordneter Laden«, sagt der Chef und grinst. »Es gibt wohl keinen jüdischeren Job als diesen. Na ja, vielleicht Rabbiner.«

Motto Dass sein Wahlspruch ihm Tür und Tor öffnet, ist klar. Wer sagt, er kaufe und verkaufe alles, bekommt natürlich auch alles angeboten. Soweit möglich, nimmt Gideon Italiaander die Ware selbst in Augenschein. Vieles stammt aus Haushaltsauflösungen, auch aus jüdischen Haushalten. »Meine Eltern haben sich in der jüdischen Wohlfahrt engagiert, dadurch war ich von Anfang an bekannt, und die Leute vertrauten mir.«

Aber auch Bestände bankrotter Betriebe ersteht er, um sie zum Spottpreis zu verschleudern. Unterstützung hat er dabei von einem Einkäufer, der für die Niederlande und Belgien zuständig ist, sowie einem weiteren in Deutschland. Insgesamt 24 Mitarbeiter beschäftigt Italiaander. »Ist alles ganz schön aus dem Ruder gelaufen«, sagt er – und grinst.

Acht Jahre ist es her, dass Gideon Italiaander seinen Handel begann. In dieser zugigen Halle in der Havenstraat fing alles an. »Hier kommt die ganze Ware rein, und dann wird sie auf die anderen Niederlassungen verteilt.« Italiaander zeigt auf einen Werbeflyer, der auf einer Landkarte alle fünf Filialen verzeichnet. Zwei weitere gibt es im Osten und im gut situierten Süden Amsterdams, wo man keinen Laden dieser Art erwarten würde. Die anderen beiden liegen in der Umgebung.

Müsste man die bevorzugte Haltung der Kunden beschreiben, wäre es die: stehend, den Rumpf leicht vorgestreckt, den Rücken gebeugt, den Blick aufmerksam nach unten gerichtet, während eine Hand durch die Ware gleitet, auf Wühltischen, in Regalen, auf Paletten. Ein paar Dutzend Kunden finden sich nun, da es auf Mittag zugeht, in der Halle – die meisten in dieser Position. Ständig kommt jemand mit neuen Entdeckungen zur Kasse.

Tresen »Mevrouw, kann ich Ihnen helfen?«, fragt Gideon Italiaander. »Den Vogelkäfig? Machen wir.« Fast gleichzeitig geht er durch die Artikel, die eine andere Frau auf den Tresen legt. Er nennt den Preis. »Viel zu billig, du Verrückter«, sagt die ältere Dame beinahe liebevoll.

In Italiaanders Geschäftsmodell ist immer Raum für Margen. Beobachtet man ihn ein paar Minuten an der Kasse, hört man unweigerlich den Satz: »Und dies hier ist ein Geschenk.« Er klingt wie ein Händler auf dem Wochenmarkt. Und genau das ist Gideon Italiaander auch.

Vor 20 Jahren begann er seine Karriere auf dem Noordermarkt, im Jordaan. Er hatte den einfachsten Schulabschluss in der Tasche, den es in den Niederlanden gibt. Immerhin. Die Schule, erinnert er sich, war eine furchtbare Zeit, und anders als seine Geschwister, die leicht lernten und es aufs Gymnasium schafften, quälte er sich durch die Jahre. Als er auf dem Markt anfing, als Packhelfer, erschloss sich ihm eine neue Welt. »Ich blieb die ganze Zeit dort und sah zu, weil ich es so schön fand.«

Bald kam ihm der Gedanke: »Das kann ich auch, und sogar besser. Mit mehr Platz und mehr Ware, und jeden Tag.«

Er lieh sich von seinen Eltern Geld und schaffte sich einen Transporter an. Gemeinsam mit einem Partner kaufte er Hausrat auf und veräußerte ihn, zuerst auf dem Markt, später an einem festen Platz im Zentrum. Nach einiger Zeit gründeten sie ein Versteigerungshaus – und gingen bankrott. Vor acht Jahren, mit 30, fing Italiaander hier wieder bei Null an.

Katze Zwischen Kisten und Sackkarren huscht eine kleine grau-weiße Katze hindurch. »Eine Streunerin aus der Nachbarschaft«, sagt Gideon. »Wir haben sie Gerda genannt, nach einer unserer Lieblingskundinnen.«

Gerda verschwindet hinter der Kasse, wo vor der Wand ein Napf mit Trockenfutter und einer mit Wasser für sie stehen. Darüber hängt eine Seite aus der Lokalzeitung »Het Parool« mit einem Porträt von Gideon Italiaander. Daneben ein Zertifikat des Jüdischen Nationalfonds: »Im Friedenswald werden zwei Bäume gepflanzt für Gideon Italiaander.«

Am Mittag taucht die echte Gerda auf. Wie fast jeden Tag kommt sie mit ihrem Rollator. Gerda Hompert ist um die 70, wohnt in der Nachbarschaft und besucht die Lagerhalle seit ihrer Eröffnung. Sie kauft Dinge für die Kinder, die Enkel, den Garten, aber auch, weil sie es »schön« findet hier, und »gezellig« – gemütlich. Und weil sie eine Schwäche für den Chef hat. Warum? Wie alle anderen Stammkunden betont Gerda Hompert, wie hart er arbeitet. »Und er ist so freundlich, immer für die Menschen da. In der Gegend gibt es keinen zweiten Laden, der so ist wie seiner. Ich gönne diesem Jungen alles!«

Der hat unterdessen schon wieder das Telefon in der Hand. »Können Sie die Ware ein wenig mehr beschreiben?«, fragt er den Anrufer. »Können Sie Fotos schicken, dann kann ich es besser beurteilen. Wissen Sie, mein Telefon klingelt 300-mal am Tag.« Zugleich rechnet er einen Kunden ab und hält in der anderen Hand ein Brötchen – alles mit einem Lächeln.

Man fragt sich, was Gideon Italiaander eigentlich sonst noch macht. Hat er Hobbys? »Nein, neben meiner Arbeit nicht. Und die mache ich sieben Tage die Woche. Aber ich habe jeden Abend frei!«

Rollator Dass diese Halle ein Schmelztiegel ist, wird schnell klar. Zum Warenlager in der Havenstraat kommt ganz Amsterdam: Studenten und Hausfrauen, Unternehmerinnen und Rentner, Menschen mit Rollator oder Kinderwagen, Christen, Juden, Muslime und Atheisten.

»Ich versuche einfach, einen Laden zu betreiben, mit dem ich mein Brot verdienen kann«, sagt Italiaander, zutreffend, und doch mit Understatement.

Schwer beladen kommt ein Paar aus dem Tor. Die Frau, Fay Abali, trägt allerlei Koffer und Taschen, der Mann, Benno Rewinkel, vier Plastiksäcke hinüber zum Parkplatz. Alles ist für den Second-Hand-Laden bestimmt, den Abali im Jordaan betreibt, ein paar Schritte nur von dem Markt entfernt, auf dem Gideon Italiaander einst begann. Auch sie kommen regelmäßig.

»Um nach Schätzen zu graben«, sagt Fay Abali. »Aber manchmal suchst du gar keine Schätze«, ergänzt Benno Rewinkel. »Manchmal kaufst du irgendwas, das du gar nicht gebrauchen kannst, und dann siehst du andere Dinge, bei denen du dich fragst, wie Menschen nur so etwas machen.« Er lacht und zeigt auf die Statuen am Eingang.

Ob die eines Tages abgeholt werden, weiß niemand. Aber gut, Gideon Italiaander hat sich eingerichtet in seinem »völlig ungeordneten Laden«, in dem alles im Fluss ist. Längst haben auch seine Eltern akzeptiert, dass dies sein Weg ist. »Anfangs fanden sie das schwer. Doch sie hatten mich noch nie so froh gesehen wie an dem Tag, als ich auf dem Markt anfing.« Außer Frage steht für ihn, dass er heute weitaus zufriedener als seine Geschwister ist. »Natürlich!«, sagt er. »Meine Brüder und Schwestern haben alle Bürojobs.«

Chabad

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