USA

Cruisen als Mizwa

Die 800 Kubikzentimeter-Maschine von David Himber röhrt durch die Hochhausschluchten von Manhattan an diesem Sonntagmorgen, an dem die Straßen so leer sind wie zu keiner anderen Stunde der Woche. Und weil es so schön klingt, lässt Himber seine Yamaha noch ein paar Mal aufheulen, bevor er sie auf dem Plaza vor dem Hauptquartier des Bloomberg-Konzerns parkt und den Zündschlüssel zieht.

Als Himber den Helm abnimmt, kommen ein dünner weißer Zopf und eine blaue Kippa zum Vorschein. Himbers Lederjacke ist mit den Insignien seines Motorrad-Clubs, den Chai Riders, bestickt – einem von rund 600 jüdischen Biker Clubs in den USA. Darüber steht ein Davidstern mit der Inschrift »Proud Jewish Biker«.

Ganz entgegen seinem martialischen Auftritt ist David Himber (der vor vielen Jahren zum Rabbiner ordiniert wurde, aber nie in diesem Beruf gearbeitet hat) ein sanfter Charakter. Er lächelt und schaut seinem Gegenüber bei der Begrüßung freundlich in die Augen. »Ein schöner Tag zum Motorradfahren«, sagt er und deutet auf den blauen Himmel, der zwischen den Spitzen der New Yorker Wolkenkratzer hindurch schimmert.

Holocaust-Gedenkfahrt Es ist viertel nach acht. Die Bloomberg Plaza füllt sich mit Hondas und Yamahas, an deren Heck israelische Fähnchen flattern. Sogar ein paar Harleys sind dabei. Es ist ein besonderer Tag für die Chai Riders, die seit »13 Jahren zusammen Motorrad fahren und dabei das gemeinsame Interesse an allen jüdischen Dingen pflegen«, wie es die Website knapp verkündet. Zu den »jüdischen Dingen« gehören Purim-, Chanukka- und Barmizwa-Feiern, der gemeinsame Auftritt bei der großen Israel Day Parade und die jährlichen Holocaust-Gedenkfahrten.

Heute erwarten die Chais Gäste aus Israel. Es ist eine Gruppe kriegsversehrter Soldaten, die Rabbi Uriel Vigler vom Chabad Israel Center an der Upper East Side mit den Chai Riders zusammengebracht hat. Die Soldaten sind für gut eine Woche zu einem gesponserten Aufenthalt nach New York gekommen – die Fahrt mit den Chais durch das grüne Tal des Hudson River wird einer der Höhepunkte ihrer Reise.

»Es ist eine Mizwa«, sagt Himber und fügt hinzu, dass das typisch sei für die Chai Riders. Es gehe immer darum, etwas für die Gemeinschaft zu tun, das Motorradfahren sei nie nur Selbstzweck – ganz gleich, ob es eine Ausfahrt für jüdische Kinder oder für Kriegsveteranen sei oder eben die große Holocaust-Gedenkfahrt.

Kitzel Doch es ist nicht so, dass den Chai Riders die Freiheit der offenen Landstraße fremd wäre. »Live to Ride, Ride to Live« ist ihr Motto, das viele sich auf ihre Kleidung haben sticken lassen. So auch Steve Ben Bari, ein Finanzangestellter aus Brooklyn, der heute mit seiner Gold Wing angetreten ist. Mit den Chai Riders, erzählt der etwa 50-jährige gemütliche Mann, habe er jenes wilde unbändige Gefühl wiederentdeckt, an das er sich von seiner Jugend in Israel her noch erinnerte. »Ich bin dort im ganzen Land mit dem Motorrad herumgefahren. Hier in New York hatte ich das ganz vergessen, bis ich die Chai Riders kennenlernte.« Die Tatsache, dass der Motorradklub jüdisch ist, war ihm dabei extrem wichtig. »Woanders hätte ich mich fremd gefühlt.«

Gegen neun Uhr setzt sich die Kolonne von rund 30 Motorrädern gemächlich in Bewegung und bollert den FDR-Drive am East River hinauf in Richtung Norden. Die Formation ist streng durchorganisiert und nach allen Seiten abgesichert, jedes Bike hat seinen Platz und seine Rolle. Sicherheit wird großgeschrieben bei den Chai Riders, insbesondere mit den Veteranen auf dem Rücksitz, die zum Teil gelähmt oder erblindet sind oder Extremitäten verloren haben.

Doch aller Zurückhaltung zum Trotz stellt sich schnell die Euphorie ein, die sich einfach nicht unterdrücken lässt, wenn man den Wind im Gesicht und 70 PS zwischen den Beinen hat und an einem strahlenden Sommertag mit dem Blick auf die Skyline von Manhattan in der Ferne über die George Washington Bridge und dann den Hudson hinaufbrummt. Als die Gruppe in der Höhe von Yonkers endgültig die Stadt hinter sich gelassen hat, kann Lauren, eine der wenigen Frauen in der Runde, sich nicht mehr beherrschen, dreht kurz auf, setzt sich an die Spitze der Gang und streckt den erhobenen Daumen heraus um zu zeigen, dass es nichts Besseres auf der Welt gibt als das hier.

rastplatz Nach einer Stunde sind die Chai Riders auf einem Rastplatz im Harriman State Park angelangt, einem riesigen Naturschutzgebiet mit kurvigen Straßen, die durch grüne Hügel führen, vorbei an malerischen Seen – ein wahres Motorradfahrerparadies. Die Begleitfahrzeuge haben auf den Holztischen ein Buffet mit Bagels und Frischkäse aufgebaut. Rabbi Uriel Vigler ist gekommen, um die Gesellschaft zu begrüßen und ein Gebet zu sprechen.

Rafael Kelen, einer der israelischen Soldaten, strahlt übers ganze Gesicht, nachdem er seinen Helm abgestreift und sich eine Zigarette angezündet hat. »Ich habe seit Monaten nichts anderes gesehen als Krankenhäuser und Therapiezentren«, sagt er. »Das ist eine solche Befreiung hier.«

Rafael war Teil einer Eliteeinheit, als er im Mai 2013 im Norden Israels bei einem Sondereinsatz in einen Hinterhalt geriet. Eine Handgranate jagte Splitter durch seinen ganzen Körper, er verlor 90 Prozent des Gehörs. Seine Kameraden mussten ihn auf einer Trage drei Stunden bis ins Lager tragen, während er um sein Leben rang und vor Schmerzen beinahe verrückt wurde. Erst heute, an diesem Tag im Hudson-Tal, hat der 23-Jährige erstmals das Gefühl, wieder wirklich lebendig zu sein.

Bei einem eilig mit dem Gaskocher aufgebrühten Kaffee sitzen die Chai Riders mit ihren Gästen zusammen. David Himber wird gefragt, was ihn denn aufs Motorrad gebracht habe. Er überlegt einen Augenblick, dann sagt er mit Bestimmtheit: »Es war Elvis.« Als 1964 der Film Roustabout mit Elvis Presley als Rocker ins Kino kam, war Himber 17, und das Bild des King of Rock’n’Roll auf seiner Maschine ließ ihn nicht mehr los.

Einen Widerspruch zwischen seinem spirituellen Leben, seinem Beruf als Jeschiwa-Lehrer und Sozialarbeiter auf der einen Seite und seinen Rocker-Neigungen auf der anderen hat Himber nie verspürt. »Ich sehe mich als ›flexodoxen‹ Juden«, sagt er. »Ich respektiere die Tora und lebe, so weit es geht, nach den Geboten. Aber ich bin auch Teil der amerikanischen Popkultur.«

Temperament Nachdem der Rastplatz wieder aufgeräumt und auch der letzte Pappbecher verschwunden ist, setzt sich die Truppe allmählich in Bewegung zurück nach Manhattan. Eine Stunde geht es noch durch die liebliche Hügellandschaft der Hudson Highlands, bevor die kleinen Landstraßen unvermeidlich in den sechsspurigen Palisades Parkway münden.

Jetzt können einige der Fahrer ihr Temperament nicht mehr zügeln. Die rechte Hand zuckt, und ehe man sich’s versieht, kratzt die Tachonadel an der 100-Meilen-Marke, während die blauweißen Wimpel wild im Wind zittern. Zehn Minuten hält der kurze Rausch, dann reihen sich die Biker wieder in Formation ein und halten sich brav an die Verkehrsregeln. Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer liegt trotzdem noch bis weit in den Abend hinein auf der Zunge. Und die Knie hören erst nach dem zweiten Glas Wein wieder auf zu zittern.

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