Belgien

Brüssel wird noch weiblicher

Premierministerin Sophie Wilmès (44) Foto: imago images/Belga

Belgien hat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Frau als Regierungschefin, und zudem eine jüdische. Das ist weit über die Grenzen Belgiens hinaus registriert worden. Am vergangenen Sonntag wurde Sophie Wilmès von König Philippe zur Premierministerin ernannt.

In diesem Amt folgt sie ihrem Parteikollegen der liberalen MR, Charles Michel, der als Nachfolger von Donald Tusk den Vorsitz im Europäischen Rat übernimmt.

Kommissarisch Wilmès tritt kein leichtes Erbe an. Belgien steckt mitten in einer seiner Regierungskrisen und hat seit fast einem Jahr nur eine Minderheitsregierung, nachdem ein wichtiger Koalitionspartner ausgeschieden war.

Auch die Neuwahlen im Mai brachten keine politische Klärung, und so ist die Regierung, die Wilmès übernimmt, noch nicht einmal aus einer Wahl hervorgegangen, sondern nur geschäftsführend und in Erwartung einer Regierungsbildung kommissarisch im Amt. Im Parlament stehen lediglich 38 der insgesamt 150 Abgeordneten hinter ihr.

Ihr Judentum hat sie nie in den Vordergrund gestellt – aber sie hat sie auch nicht verleugnet.

Dass dies keine dauerhaft tragfähige Basis ist, wissen alle, und so hat Wilmès verkündet, dass ihr jetziges Amt von möglichst kurzer Dauer sein soll. Dennoch ist jedem klar, dass man im Zuge einer allfälligen Regierungsbildung leichter Premierministerin bleibt, wenn man es schon ist.

Die erst 44-jährige Wilmès, verheiratet mit einem Australier und Mutter von vier Kindern, ist seit 2007 im politischen Geschäft und seit 2015 Ministerin in der föderalen Regierung. Sie hat damit schon jetzt eine beachtliche Karriere hinter sich.

Herkunft Ihr Judentum hat sie nie in den Vordergrund gestellt – aber sie hat sie auch nicht verleugnet. Erst wenige Tage vor ihrer Ernennung zur Premierministerin hat sie, in ihrer damaligen Funktion als Wissenschaftsministerin, bei der feierlichen Verleihung von Studienstipendien der Fondation Auschwitz eine Re­de gehalten.

Darin zitierte sie aus der Postkarte von Hilde Verdoner-Sluizer an deren Vater vom 7. Februar 1944: »Meine Befürchtungen sind wahr geworden, und ich bin für einen Transport eingeteilt. (…) Ich habe wenig Hoffnung.« Hilde Verdoner-Sluizer wurde tatsächlich am nächsten Tag nach Auschwitz deportiert und drei Tage später ermordet. Die Kartenschreiberin war, wie Wilmès berichtete, ihre Urgroßtante.

Internationale Medien berichteten aus dem belgisch-jüdischen Leben meist nur, wenn es Anschläge gibt.

Es ist ein viel beachtetes Novum, dass jetzt eine jüdische Frau die Regierung in Belgien führt. Aber es gibt auch besonnene Stimmen, die das ins richtige Verhältnis gesetzt sehen wollen. Zu ihnen gehört Philippe Markiewicz, der Präsident des Consistoire central israélite de Belgique, der jüdischen Dachorganisation des Landes. Er bedauert, dass vielfach der Eindruck entstanden sei, die jüdische Gemeinde in Belgien lebe in einer Art Belagerungszustand.

Museum Internationale Medien berichteten aus dem belgisch-jüdischen Leben meist nur, wenn es Anschläge gebe, wie jenen vor dem Jüdischen Museum in Brüssel im Mai 2014. Das sei eine Katastrophe gewesen. Doch die jüdische Gemeinde in Belgien, eine der ältesten in West-Europa, sei eine hoch integrierte Minderheit, und Juden in herausgehobener politischer und gesellschaftlicher Position seien nichts Un­gewöhnliches.

So nennt Markiewicz den gerade abgetretenen Präsidenten des Senats, des Oberhauses im belgischen Parlament, Jacques Brotchi. Dieser habe den Holocaust als Kind im Versteck überlebt. Und ein weiteres »verstecktes Kind«, François Englert, sei der letzte belgische Nobelpreisträger gewesen (Physik, 2013).

Für Markiewicz ist Sophie Wilmès nur das jüngste, wenn auch ein herausragendes, Beispiel für diese selbstverständliche Präsenz im öffentlichen Leben. »Ich kenne sie als überaus fähige Frau und zudem als charmante und einnehmende Persönlichkeit. Ich erwarte von ihr, dass sie eine gute Premierministerin wird. Und das für alle Belgier.«

Interview

Der Medienschaffer

Der Ausnahmejournalist und Unternehmer Roger Schawinski über Erfolg, Judenhass und den 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  28.03.2024

Nachruf

Joe Lieberman stirbt mit 82 Jahren

Fast ein Viertel Jahrhundert lang setzte er sich als Senator auch für jüdische Belange ein

von Imanuel Marcus  28.03.2024

USA

Bildhauer Richard Serra gestorben

Für mehr als 100 öffentliche Orte schuf er Skulpturen – von Philadelphia und St. Louis bis Bochum und Kassel

 27.03.2024

Moskau

Evan Gershkovich bleibt in Untersuchungshaft

Putin will den inhaftierten US-Journalisten gegen russische Gefangene auszutauschen

 26.03.2024

Glosse

Woher stammt der Minderwertigkeits-komplex vieler Schweizer gegenüber Deutschen?

Und was verbindet die Identitätskarte mit der Rappenspalterei?

von Nicole Dreyfus  25.03.2024

Schweiz

Antisemitismus-Problem an Schulen

Die Zahlen sind erschreckend, doch die Stadt Bern wiegelt ab. Und jüdische Eltern verlieren das Vertrauen

von Nicole Dreyfus  24.03.2024

Großbritannien

»Beste Wünsche für eine Refua Schlema«

Oberrabbiner Sir Ephraim Mirvis und das Board of Deputies wenden sich nach ihrer Krebsdiagnose an Prinzessin Kate

 24.03.2024 Aktualisiert

Jubiläum

Mehr als koscheres Pastrami-Sandwich

New York feiert in diesem Jahr seinen 400. Geburtstag. Eine Reise durch die jüdische Geschichte der Stadt

von Hannes Stein  23.03.2024

Iran

Von Schuschan bis Teheran

Tausende Juden leben noch in der Islamischen Republik. Dieser Tage feiern sie Purim – trotz allem

von Mascha Malburg  21.03.2024