Frankreich

Berichten gegen die Angst

Im jüdischen Radiosender Aviva in Montpellier herrscht hektisches Treiben. Ständig klingelt das Telefon von Sendungsleiterin Perla Danan. Kurz vor Redaktionsschluss will ein Journalist der Regionalzeitung La Gazette noch schnell ein Interview.

Das Thema ist, na klar: der Terror und die Stimmung in der jüdischen Gemeinde nach dem Anschlag auf den koscheren Supermarkt in Paris, bei dem am 9. Januar vier Männer ermordet wurden. »Immer diese Fragen nach der Angst«, sagt Danan genervt. Ihr Credo ist: Weiterleben wie bisher, in den Gottesdienst gehen und nicht in Panik verfallen.

Das sollte ihrer Ansicht nach auch für die Redaktion des freien Radios mit ihren fünf festen und 25 ehrenamtlichen Mitarbeitern gelten. Doch sie räumt ein, dass sie inzwischen alle etwas vorsichtiger geworden sind: »Bevor wir einem Besucher öffnen, schauen wir aus dem Fenster – das haben wir vorher nicht getan.«

Seit die Regierung die massive Bewachung jüdischer Einrichtungen angekündigt hat, steht vor dem Tor des benachbarten Gemeindezentrums ein bewaffneter Polizist. Zwei weitere sitzen gegenüber in einem Einsatzwagen.

Drohbrief »Ich arbeite bei einer Zeitung und dazu noch bei einer jüdischen, deshalb hat mein Mann immer Angst, wenn ich in die Redaktion gehe. Und ich selbst habe auch Angst«, sagt Sandrine Szwarc, Leiterin des Kulturressorts bei Frankreichs einziger jüdischer Wochenzeitung Actualité Juive mit einer Auflage von 33.000 Exemplaren.

Auch ihr Gebäude steht jetzt unter strenger Bewachung. Szwarc fürchtet sich weniger vor geplanten islamistischen Anschlägen als vor verrückten Trittbrettfahrern. Bisher erhielt die Redaktion nur einmal einen antisemitischen Drohbrief, zu einer Tat kam es glücklicherweise noch nie.

Mancher Journalist versucht in diesen Tagen, gelassen zu bleiben. So sagt Roger Assaraf, der frühere Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Marianne, der heute das Pariser Radio Shalom leitet: »Ich habe keine Angst, man darf sich nicht terrorisieren lassen. Ich vertraue Frankreich und der jüdischen Gemeinde.« Seine Redaktion stehe zwar noch immer unter Schock, sagt Assaraf, aber »wir müssen jeglichen Extremismus bekämpfen und uns für den Frieden einsetzen«.

Wie überall im Land beherrschten die Terroranschläge tagelang die Berichterstattung. Die meisten jüdischen Medien berichten auch fast zwei Wochen danach noch immer täglich darüber. Radio Aviva in Montpellier tut das im Rahmen seiner Nachrichtensendungen, die dreimal am Tag ausgestrahlt werden. Der Redaktion ist es wichtig, ausgeglichen zu informieren und keine Panik zu verbreiten.

Psychiater Actualité Juive widmete kurz nach den Anschlägen dem Thema die gesamte Ausgabe. Man erhöhte die Seitenzahl, das Titelbild zeigte den Slogan »Ich bin Jude, ich bin Charlie, ich bin Polizist«. »Wir haben die Tage des Terrors chronologisch nachgezeichnet und Geiseln interviewt«, berichtet Sandrine Szwarc.

In einem zweiten Teil kam der französisch- israelische Karikaturist Michel Kisska zu Wort. »Er lieferte uns eine Zeichnung mit der Unterschrift ›Man muss Tinte und nicht Blut fließen lassen‹.« Szwarc selbst führte ein Interview mit dem Psychiater Boris Cyrulnik, der jüdischen Eltern Tipps gab, wie sie ihren Kindern die Geschehnisse erklären können. »Damit wollten wir deutlich machen, dass die jüdische Gemeinde zwar ein Trauma erlitten hat, dass man es aber überwinden kann«, sagt Szwarc.

Einen etwas anderen Ansatz wählte die Webseite Jewpop.com, die seit vier Jahren besteht und, wie ihr Gründer Alain Granat sagt, »mit viel Humor« aus der jüdischen Welt und vor allem über Kulturthemen berichtet.

Kurz nach den Anschlägen veröffentlichte Jewpop einen Artikel von Granat, der Karikaturen von Charlie Hebdo über das Judentum und Israel aufgriff: »Wir wollten damit zeigen, dass Charlie nicht nur den Islam und das Christentum kritisiert und dass Juden auch über sich selbst lachen können.« Dieser Ansatz fand offenbar Anklang: Innerhalb von nur drei Tagen lasen um die 50.000 Personen den Artikel – normalerweise hat die Webseite etwa 120.000 Besucher pro Monat. Auch die Nachrichtenagentur AFP griff den Artikel auf.

Zuletzt schlug Jewpop jedoch ernstere Töne an: Die Redaktion veröffentlichte einen Nachruf auf den 21-jährigen jüdisch-tunesischen Studenten Yoav Hattab, der bei dem Anschlag ermordet wurde. Den Text hatte sein Freund geschrieben.

Nahostkonflikt Was können jüdische Medien gegen Islamismus und Antisemitismus tun, fragen sich viele. Die meisten Journalisten legen Wert auf eine ausgeglichene Berichterstattung über den Nahostkonflikt. »Die übrigen Medien haben dabei eine katastrophale Rolle gespielt, indem sie Israel als Hauptschuldigen darstellten«, kritisiert Sandrine Szwarc.

Die Redaktion von Radio Aviva plant, in Zukunft noch mehr Nachrichten zu bringen und sich weiterhin für die Verständigung zwischen den Religionen einzusetzen. »Wir gehen in Schulen und produzieren dort mit den jungen Menschen Sendungen zum Thema Diskriminierung«, sagt der stellvertretende Chefredakteur Hubert Allouche – und fügt hinzu: »Wenn eines Tages ein muslimischer Praktikant einem Juden die Zeiten der Gottesdienste durchgibt, dann haben wir etwas erreicht.«

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