Washington D.C.

AJC ruft »globalen Ausnahmezustand für das jüdische Volk« aus

Beim Globalen Forum wird deutlich, unter welchem Druck Juden weltweit stehen

von Nils Kottmann  11.06.2024 11:42 Uhr

Die politische Stimmung nicht nur in Amerika ist so aufgeheizt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. »Sie ist aggressiv und gefährlich«, sagt AJC-Geschäftsführer Ted Deutch Foto: AJC

Beim Globalen Forum wird deutlich, unter welchem Druck Juden weltweit stehen

von Nils Kottmann  11.06.2024 11:42 Uhr

Als rund 2000 Jüdinnen und Juden am Sonntag aus aller Welt zum Global Forum des American Jewish Committee (AJC) nach Washington D.C. reisten, waren die Spuren des antisemitischen Hasses im Zentrum der amerikanischen Hauptstadt noch deutlich zu sehen. »Death to Israel« (»Tod für Israel«) hatten Demonstranten an eine Barrikade vor dem Weißen Haus gesprüht. Andere hatten den Dienstsitz von US-Präsident Joe Biden mit den roten Dreiecken der Hamas beschmiert - ebenjene Symbole, mit denen die Terroristen israelische Soldaten in Gräuel-Clips als Ziele markieren, bevor sie ermordet werden.

»Death to Israel«-Graffiti vor dem Weißen Haus in Washington D.C.Foto: Nils Kottmann

Seit den Massakern der Hamas ist die politische Stimmung nicht nur in Amerika so aufgeheizt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. »Sie ist aggressiv und gefährlich«, sagt AJC-Geschäftsführer Ted Deutch zur Jüdischen Allgemeinen. »Die Antwort darauf ist, zumindest zum Teil, dieses Treffen von 2000 jüdischen Anführern aus der ganzen Welt, die zusammenstehen und sagen: ›Wir haben keine Angst davor. Wir sind stolze Juden und unterstützen Israel.‹ Es gibt keinen Platz für diese antisemitische Bedrohung und niemand außer uns wird entscheiden, wie wir darauf reagieren.«

Deutch reagierte auf die aktuelle Lage, in dem er einen »globalen Ausnahmezustand für das jüdische Volk« ausrief. »Derselbe Hass, der Amerikas Gesellschaft infiziert, kommt in Chile, Spanien und Frankreich voran«, sagte der AJC-Geschäftsführer bei seiner Eröffnungsrede am Sonntagabend. Gemeinsam mit 46 Organisationen aus 35 Ländern veröffentlichte das AJC deshalb einen »Global Call To Action«, der Maßnahmen auflistet, mit denen Regierungen und Zivilgesellschaften gegen Antisemitismus vorgehen können.

Das Global Forum wurde gleich zweimal selbst Ziel von antisemitischen Protesten. Als am Dienstag Jake Sullivan, Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden für ein Interview erschien, stürmten zwei Demonstranten die Bühne und hielten ein Schild mit der Aufschrift »Jews say no to genocide in Gaza« hoch. Beide wurden unter »Am Israel Chai«-Rufen aus dem Publikum von der Bühne entfernt.

Antisemitische Störer stürmten während des Interviews mit Jake Sullivan auf die Bühne und hielten ein Schild mit der Aufschrift »Juden sagen nein zum Genozid in Gaza« hoch

Sullivan nutzte seinen Auftritt um für den von Präsident Biden vorgeschlagenen Geisel-Deal zu werben. »Mit dem Waffenstillstand in Kraft und den Geiseln, die nach Hause kommen, eröffnen sich strategische Möglichkeiten, die ein Gamechanger für Israel sein könnten«, sagte er im Gespräch mit Ted Deutch. »Wir können einen Tag danach haben, an dem die arabischen Länder Verantwortung im Gazastreifen übernehmen und an dem es einen Pfad für Israels volle Integration in die Region gibt«, so Sullivan.

Kritik an Biden, der sich in den vergangenen Wochen wegen der Offensive in Rafah öfter von Israel distanziert hatte, etwa indem er eine Lieferung von Bomben und Artilleriegranaten zurückhielt, wischte Jake Sullivan beiseite. »Wir werden etwas sagen, wenn wir Bedenken haben, genauso wie die israelische Regierung, wenn sie uns gegenüber Bedenken hat.« Das sei übliche Praxis zwischen demokratischen Staaten. Aber die USA stünden so eng an Israels Seite, dass kein Streif Tageslicht zwischen die beiden passe, behauptete Jake Sullivan.

Auch innenpolitisch knirscht es etwa bei der Frage, wie Antisemitismus überhaupt definiert werden soll. Der Senat diskutiert zurzeit, ob die USA die IHRA-Definition Teil der Gesetzgebung gegen Diskriminierung werden soll. Doch einige republikanische wie auch demokratischen Senatoren haben Bedenken, dass die IHRA-Definition die Meinungsfreiheit einschränken könnte. Im Repräsentantenhaus wurde der Vorschlag zwar angenommen, jedoch gegen den Widerstand vieler Demokraten: 70 von ihnen stimmten mit Nein. Bei den Republikanern waren es 21 Abgeordnete. Der Vorgang ist besonders bemerkenswert, weil Juden in Amerika für gewöhnlich in überwältigender Mehrheit für die Demokraten stimmen.

Antisemitische Uni-Proteste bringen jüdische Studenten zusammen

Gerade an amerikanischen Universitäten hat es einige gute Beispiele für den Kampf gegen Antisemitismus gegeben, wie jüdische Studenten beim Global Forum berichten. »Bei uns an der American University in Washington wollte das Studierendenparlament eine BDS-Resolution durchbringen. Die Sitzung dazu wurde absichtlich auf den ersten Pessach-Abend gelegt, um jüdische Studenten auszuschließen«, schildert Ryan Kassanoff, der sich beim AJC Global Campus Board engagiert. »Als Uni-Präsidentin Sylvia Burwell davon erfuhr, schickte sie sofort eine E-Mail ab, in der sie klarstellte, dass die Universität die Resolution nicht unterstützen wird.«

»Ich fühle mich an meiner Universität sicher«, erzählt Kassanoff der Jüdischen Allgemeinen. Auch weil Universitäts-Präsidentin Burwell seit dem 7. Oktober für mehr Polizeischutz gesorgt habe und gegen Protestcamps vorgegangen sei. Diese seien stattdessen zur George Washington University im Zentrum der US-Hauptstadt weitergezogen.

Für Chanelle Mizrahi von der University of Southern California haben die antisemitischen Demonstrationen auch dazu geführt, dass jüdische Studenten näher zusammenrücken: »Wir sehen, dass deutlich mehr Menschen zu den Schabbat-Tischen von Hillel oder Chabad kommen.«

In Südafrika hingegen unterstützen Universitäten und die Regierung die pro-palästinensischen bis antisemitischen Proteste. »Als Außenministerin Naledi Pandor unsere Universität besuchte, forderte sie Massenproteste gegen Israel«, erzählt Erin Dodo, die an der Universität Kapstadt studiert hat.

Dodos Erklärung, warum so viele Menschen in Südafrika anti-israelisch eingestellt sind, ist einfach: »Wenn Israel als ein Apartheidstaat bezeichnet wird, zieht das die Menschen wegen unserer Geschichte an, wie Motten das Feuer. Südafrika hat so viel Angst davor, die Menschenrechte mit Füßen zu treten, dass es nichts tut, um Juden zu schützen«, so Dodo.

Der Studentin zufolge würden aber auch jüdische Studenten Unterstützern Israels in den Rücken fallen. »Als Südafrika Soldaten der israelischen Armee die Einreise verbot, enthüllten einige jüdische Studenten die Identität von Südafrikanern, die nach Israel gegangen waren, um in der Armee zu dienen. Die konnten dann nicht mehr ihre Familien besuchen. Auf eine Art sind diese Gruppen ein größeres Problem als die arabischen, weil sie versuchen, unseren jüdischen Stolz zu zerstören«, sagt Erin Dodo.

AJC zeichnet JSUD aus

Welche große Rolle der Kampf gegen Antisemitismus an den Universitäten spielt, zeigte sich auch am Montagabend. Vor den rund 2000 Gästen wurde die Jüdische Studierendenunion Deutschlands (JSUD) zusammen mit zwei weiteren jüdischen Studentenorganisation für ihr Engagement mit dem Sharon Greene Award ausgezeichnet. JSUD-Präsidentin Hanna Veiler versprach in ihrer Dankesrede, weiterhin für eine Welt ohne Antisemitismus zu kämpfen.

Hanna Veiler, Präsidentin der JSUD, hat den Sharon Greene Award in Washington D.C. entgegengenommenFoto: © Joshua Roberts 2024

»Die Tatsache, dass wir für diesen Preis ausgewählt wurden und ich die Möglichkeit hatte, vor diesem Publikum zu sprechen, bedeutet sehr viel. Es ist schön die Anerkennung nicht nur in Deutschland zu bekommen und zu sehen, dass unsere Arbeit Wellen bis in die USA schlägt«, sagte Veiler, zur Jüdischen Allgemeinen. Die JSUD will das Preisgeld in Höhe von 2500 Dollar dazu nutzen, jüdische Studentinnen und Studenten zu fördern.

Ehrungen für »Helden Israels«

Während des Kongresses wurden auch Menschen geehrt, die dem Terror vom 7. Oktober mit großem Mut begegneten. Menschen wie Dorit und Zvi Reder aus dem Kibbuz Sa’ad, die am 7. Oktober Dutzenden das Leben retteten, die eine als Krankenschwester, der andere als Krankenwagenfahrer für Magen David Adom - und die auch dann weitermachten als sie wenig später erfuhren, dass ihr Son Dor (21) und seine Freundin Celeste von den Terroristen der Hamas ermordet wurden. »Ihr einziges Ziel war es, Dunkelheit zu bringen, während meine Frau und ich versuchten Hoffnung zu spenden«, erzählt Zvi Reder.

Dorit und Zvi Reder zollten beim Global Forum ihrem Sohn Dor Tribut, der am 7. Oktober von der Hamas ermordet wurdeFoto: AJC

Orna und Ronen Neutra ehrten ihren Sohn Omer, der seit mehr als 245 Tagen in Geiselhaft der Hamas ist. Der mittlerweile 22-jährige New Yorker leistete seinen Militärdienst ab, als die Terroristen am Morgen des 7. Oktober die Grenze zu Israel durchbrachen. Omer eilte mit seiner Panzerbrigade zum Grenzzaun, doch wurde er wohl von den hunderten Hamas-Terroristen, die seinen Panzer mit Raketen beschossen, überwältigt und schließlich in den Gazastreifen verschleppt.

»Ich frage mich die ganze Zeit, wie Omer das erlebt«, sagt sein Vater Ronen und versucht sich dann in die Lage seines Sohnes zu versetzen: »Überall gibt es Explosionen, ich habe ständig Hunger und Durst. Ich habe Angst, aber zeige sie nicht, um für die anderen stark zu sein. Als ich in der Grundschule war haben wir jeden Tag für eine andere Geisel gebetet: Gilad Shalit. Beten sie jetzt für mich?«

Ronen und Orna Neutra fordern einen Geisel-Deal, damit sie ihren Sohn Omer endlich wieder in ihre Arme schließen könnenFoto: AJC

Omers Mutter Orna fordert von der israelischen Regierung, einen Geiseldeal mit der Hamas abzuschließen. »Der einzige Weg, sie zu befreien, ist mit einem Deal mit dem Teufel. Die Hamas zu zerstören wird Zeit und Geduld brauchen, aber unsere Anführer müssen sich um das Dringliche kümmern«, appelliert sie.

Am Montagabend ehrte das Global Forum auch Nasreen Yousef (46) für ihren heldenhaften Einsatz am 7. Oktober. Die Drusin lebte mit ihrem Mann Eyad und ihren vier Kindern im Dorf Moshav Yated, nur vier Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Als die Terroristen kamen, retteten sie sich zuerst in den Schutzraum. »Eyad rief die Armee an und meldete sich trotz seines gebrochenen Beins zum Dienst. Er sagte, er würde lieber in Uniform sterben, als in diesem Schutzraum«, erinnert sich Nasreen. Während ihr Mann sich dem lokalen Sicherheitsteam im Kampf gegen die Hamas anschloss, harrte Nasreen Yousef mit den Kindern im Schutzraum aus.

»Schau mir in die Augen, ich hab keine Angst vor dir«

Doch als Eyad einen Hamas-Terroristen im Garten überrumpelt, packt sie der Mut: »Schau mir in die Augen, ich hab keine Angst vor dir«, sagt sie zu einem von ihnen in ihrer Muttersprache Arabisch. Nasreen Yousef schafft es, den Mann davon zu überzeugen, dass sie auf seiner Seite sei und ihn in Sicherheit bringen wolle. Der Hamas-Kämpfer glaubt ihr und verrät, wie viele Terroristen sich noch im Dorf aufhalten und durch welchen Zaun sie gekommen sind. Nach und nach gelingt es Eyad, dem Sicherheitsteam und Nasreen mit dieser Masche den Aufenthalt von zahlreichen anderen Terroristen ausfindig zu machen.

Eigentlich sollte Nasreen Yousef als Ehrung für ihre heldenhaften Taten am 7. Oktober die Fackel am israelischen Unabhängigkeitstag entzünden. Doch weil es Morddrohungen gegen ihre Familie gab, musste sie schweren Herzens ablehnen.

Auch während Nasreen Yousef ihre Geschichte in Washington erzählt, versammeln sich anti-israelische Demonstranten vor dem Kongress-Hotel. »Genozid ist eure Entscheidung, euch wird niemals vergeben«, brüllen sie. Doch davon ist im Ballsaal nichts zu hören. Dort hört man nur den minutenlangen Applaus der 2000 Besucher.

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