Grossbritannien

10.000 in sechs Monaten

Josh Edelman und Julia Baroness Neuberger Foto: Daniel Zylberstajin

Rabbinerin Julia Baroness Neuberger, eine der bekanntesten jüdischen Stimmen Großbritanniens, steht hinter der Eingangstür der West-Londoner Reformsynagoge und begrüßt Besucher. Die fast 70 Gäste sind ihr und den mehr als 30 Freiwilligen äußerst wichtig. Einige ziehen Rollkoffer hinter sich her, andere schieben Kinderwagen. Ihre Herkunftsländer liegen in Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Alle wollen Asyl. Neuberger erklärt, dass »diese Menschen« mit besonderer Zuneigung empfangen werden müssen, denn sie haben »in ihren Heimatländern teilweise Schreckliches erlebt und werden oft auch noch in Großbritannien schlecht behandelt«.

Im größten Raum der Synagoge spielen jetzt Kinder verschiedener Herkunft unbesorgt unter der Aufsicht freiwilliger Mitarbeiter, während sich ihre Eltern im Foyer und im Speisesaal ausruhen, essen, miteinander reden oder sich beraten lassen. Vor dem Treppengeländer werden Hygienebeutel, Kleidung und Baby-Utensilien verteilt. Aaron Christo-Leigh (45), ein Flüchtling aus Sierra Leone, sagt: »Die Leute, die hier helfen, verstehen Menschen wie mich besser, weil sie selbst einen Flüchtlingshintergrund haben.« Julia Neuberger bestätigt das: »Zwischen 1939 und 1945 war diese Synagoge Tag und Nacht für jüdische Flüchtlinge offen«, erzählt sie. Auch ihre Mutter sei einst Flüchtling gewesen. Wie viele andere kam sie damals aus Nazideutschland.

Freiwillige Angefangen hat die aktuelle Flüchtlingshilfe der Gemeinde vor vier Jahren mit einer Rede von Neuberger. Die Rabbinerin wusste, dass sich im Norden Londons eine Masorti-Gruppe um Flüchtlinge kümmerte, und schlug dies auch für ihre Synagoge vor. Josh Edelman, einer der Freiwilligen, sagt, dass gerade diese Arbeit die Gemeinde gut zusammenhalte. Als Grund, warum er helfe, gibt er an, dass er mit der britischen Migrationspolitik nicht einverstanden ist.

Baroness Neuberger, die auch im britischen Oberhaus sitzt, spricht das Thema dort immer wieder an. Es zeige zwar bisher wenig Wirkung, sagt sie, doch inzwischen plane sie gemeinsame Aktionen mit Vertretern verschiedener Religionen, um die Regierung dazu zu bewegen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.

Kampagnen Neben der direkten Arbeit mit Flüchtlingen laufen inzwischen zahlreiche Kampagnen, um Druck auf lokale und nationale Behörden zu machen. So hat beispielsweise die Progressive Gemeinde in London-Finchley eine Kampagne gestartet, um die kommunale Behörde dazu zu bringen, mindestens 50 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Gemeinde hilft jetzt dabei, mögliche Unterkünfte zu finden.

Der World Jewish Relief, eine Organisation, die sich in den 30er- und 40er-Jahren um jüdische Flüchtlinge kümmerte, hat mit der Unterstützung der Vertreter fast aller jüdischen Gemeinden und dem jüdischen Dachverband Board of Deputies sowie Oberrabbiner Ephraim Mervis eine Hilfsaktion gestartet: Über die zentrale Internetseite www.supportrefugees.org.uk erfahren Privatpersonen und Gemeinde, wo sie sich für Flüchtlinge engagieren können.

Kindertransport Bei Premierminister David Cameron treffen inzwischen jede Woche Bittbriefe von Juden ein. So schrieb der Sprecher der Kindertransportflüchtlinge, Erich Reich, dass die meisten der 10.000 jüdischen Kindertransportflüchtlinge ihre schlechte Lage »zu einem Lebenstriumph« umwandelten und »unschätzbare Leistungen für die britische Gesellschaft« vollbrachten. Reich forderte Cameron deshalb auf, mehr syrische Kinder in Großbritannien aufzunehmen.

Ein weiterer Brief zweier Kindertransportflüchtlinge wurde bisher von 105 britischen Rabbinern und Rabbinerinnen verschiedener Gemeinden unterschieben und dem britischen Premier vergangene Woche übergeben. Ihre Forderung: Innerhalb der nächsten sechs Monate sollte mindestens 10.000 Flüchtlingen die Einreise gewährt werden.

Auch führende Vertreter orthodoxer Gemeinden, unter anderem Agudas-Direktor Yizchok Silkin, haben Cameron gebeten, das britische Engagement für syrische Flüchtlinge zu erweitern. Es sei für Juden eine moralische Pflicht, das auszusprechen – gerade weil in der Vergangenheit jüdischen Flüchtlingen trotz Lebensgefahr oft die Türen verschlossen blieben. Der Premierminister müsse deutlich mehr tun als bisher.

Nachruf

Gebäude wie Jazzmusik

Frank Gehry hat die Architektur tanzen lassen – was auch mit seinem Judentum zu tun hatte

von Johannes Sadek, Christina Horsten  10.12.2025

Hollywood

»Stranger Things« trotzt Boykottaufrufen

Während Fans den Start der letzten Staffel des Netflix-Hits feiern, rufen Anti-Israel-Aktivisten zur Ächtung der Serie auf

von Sophie Albers Ben Chamo  10.12.2025

Toronto

20 Mesuot aus Seniorenheim gestohlen

Die Polizei geht von einem Hassverbrechen aus

 09.12.2025

Frankreich

Aus Judenhass Gift ins Essen gemischt?

In Nanterre läuft der Prozess gegen eine 42-jährige Algerierin. Sie wird beschuldigt, während ihrer Tätigkeit als Kindermädchen bei einer jüdischen Familie Lebensmittel und Kosmetika absichtlich mit Seife und Haushaltsreiniger vermischt zu haben

 09.12.2025

Social Media

Jüdischer Politiker im Iran warnt seine Gemeinde         

Der einzige jüdische Abgeordnete im Iran rät seiner Gemeinde, Social-Media-Kanälen mit Israel-Bezug zu entfolgen. Was hinter seiner Warnung steckt

 09.12.2025

Noëmi van Gelder wurde mit deutlicher Mehrheit zur neuen Präsidentin der ICZ gewählt.

Zürich

Israelitische Cultusgemeinde hat neue Präsidentin

Die größte jüdische Gemeinde der Schweiz hat gewählt: Mit Noëmi van Gelder will die Gemeinde ein klares Signal setzen

von Nicole Dreyfus  08.12.2025

Alan Shatter

»Dieses Vorgehen ist nun wirklich idiotisch«

Irlands ehemaliger Justizminister nimmt kein Blatt vor den Mund: Im Interview kritisiert Alan Shatter nicht nur den Boykott des Eurovision Song Contest durch sein Land. Er macht die irische Regierung auch für wachsenden Judenhass verantwortlich

von Michael Thaidigsmann  08.12.2025

Dänemark

Männer sollen 760.000 Euro für die Hamas gesammelt haben

Am Dienstagmorgen nahm die Polizei einen 28-Jährigen fest. Sein mutmaßlicher Komplize sitzt bereits in U-Haft

 05.12.2025

Antisemitismus

Litauen: Chef von Regierungspartei wegen Antisemitismus verurteilt

In Litauen ist der Chef einer Regierungspartei mehrfach durch antisemitische Aussagen aufgefallen. Dafür musste er sich vor Gericht verantworten. Nun haben die Richter ihr Urteil gefällt

 04.12.2025