Jom Haazmaut

»Wir singen die alten Lieder«

Lizzie Doron Foto: Gregor Zielke

Frau Doron, wie feiern Sie Jom Haazmaut? Immer noch zusammen mit vielen Freunden in Ihrem Garten in Tel Aviv, mit gemeinsamem Gesang?
Ja, diese Tradition ändert sich nicht. Wir sind die Generation, die in den 50er-Jahren geboren wurde – im ersten Jahrzehnt des Staates Israel. Wir haben gelernt, uns sehr zu freuen, dass wir einen eigenen Staat haben. Und wir singen immer noch die Lieder aus der Zeit der Staatsgründung, die Lieder des Palmach, des Unabhängigkeitskrieges, des Sinai-Krieges. Es sind viele Heimatlieder, Lieder über das Jezreel-Tal, über Jerusalem, über die Schönheit Israels. Und auch Lieder, die im Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht gerade politisch korrekt sind: wie über ein Mädchen, das am Fenster sitzt und auf ihren Soldaten wartet. Diese Liebe zum Gesang, das ist etwas, was typisch ist für meine Generation. Ich weiß nicht, was meine Kinder in Zukunft am Jom Haazmaut tun werden. Aber wir Älteren, wir singen die Lieder von damals. Für uns ist der Unabhängigkeitstag auch etwas sehr Nostalgisches – ich feiere den Vorabend von Jom Haazmaut so, wie ich ihn schon als Zwölfjährige gefeiert habe.

Und was machen Sie am Feiertag selbst?
Wir treffen uns in einem Haus von Freunden, auch im Garten, veranstalten ein Barbecue. In den 70er- und 80er-Jahren hat das angefangen, dass die Leute an Jom Haazmaut grillen, viele auch im Park oder am Strand, mit viel Fleisch und viel Gewürzen. Ich muss aber sagen, dass sich mein persönliches Gefühl zum Unabhängigkeitstag in den vergangenen 20 Jahren sehr verändert hat.

Was ist für Sie anders geworden?
Ich glaube, dass der Staat Israel etwas von seinem Weg abgekommen ist und ihn neu finden muss. Unser Land kämpft mit ausgesprochen schwierigen Identitätsproblemen. Wir müssen uns heute fragen, wer wir eigentlich sind – zum Beispiel, wenn es um die Beziehung zwischen Judentum und Demokratie geht, und auch um die Stellung der Frau. Und es gibt zwei Bevölkerungsgruppen, die sich an den Jom Haazmaut-Partys gar nicht beteiligen: das sind die Araber mit israelischem Pass, und das sind die Ultraorthodoxen. Außerdem wird in Jerusalem oder jenseits der grünen Linie ganz anders gefeiert als bei uns in Tel Aviv. Manchmal habe ich das Gefühl, dass heute jeder den Jom Haazmaut in seiner eigenen Nische begeht.

Das heißt, jeder macht seine Privatfete?
Es ist immer noch ein kollektives Fest, kein Familienfest. Aber die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die den Jom Haazmaut feiern, vermischen sich kaum. Man trifft sich in privaten Gärten und Häusern. Als ich ein Kind war, war an Jom Haazmaut ganz Tel Aviv auf den Beinen. Wir haben auf den Plätzen der Stadt gefeiert, wir haben getanzt und gesungen, es gab Konzerte. Wahrscheinlich liegt es auch unserem Alter, dass wir heute nicht mehr auf der Straße tanzen. Ich bin 1953 geboren, ich bin fünf Jahre jünger als der Staat Israel, und auch meine Freunde sind im Alter zwischen 55 und 60. Aber es könnte genauso an unserer Sorge liegen, wie es dem Staat Israel im Nahen Osten von morgen ergehen wird.

Wer sind Ihre Freunde, wer feiert in Ihrem Garten?
Es sind zum großen Teil Kinder von Schoa-Überlebenden. Man nennt uns die »Zweite Generation«, aber in Israel sind wir die erste Generation, die hier im Land geboren wurde. Und die Freundschaften zwischen uns waren von Anfang an sehr stark, weil viele von uns sehr wenig Familie hatten. Wir sind Menschen, die in der israelischen Gesellschaft oft großen Erfolg hatten. In unseren Gärten treffen sich Ärzte, Wissenschaftler, Akademiker, Geschäftsleute. Und ich glaube, der Jom Haazmaut ist für uns eine Gelegenheit, auch auf uns selbst stolz zu sein. Aber wir sind andererseits die Generation der Israelis, die im Jom-Kippur-Krieg von 1973 Soldaten waren. Und ich glaube, das ist ein Krieg, über den immer noch nicht gründlich genug in Israel gesprochen wurde. 3000 Menschen sind ums Leben gekommen, viele von meinen Freunden waren darunter. Aber wir reden nicht darüber. Stattdessen singen wir. Das ist vielleicht auch eine Art der Erinnerung.

Der Tag vor Jom Haazmaut ist ein trauriger Tag. Zur Erinnerung an gefallene israelische Soldaten heulen am »Jom Hasikaron« die Sirenen. In Ihrem Buch »Es war einmal eine Familie« haben Sie über Mitschüler geschrieben, die im Krieg starben. Was bedeutet der Tag heute für Sie?
Bis vor etwa zehn Jahren bin ich jeden Jom Hasikaron zum Militärfriedhof gegangen und habe Blumen auf die Gräber der Soldaten niedergelegt, die meine Freunde waren. Aber die Zeit vergeht, und heute frage ich mich manchmal, wer dort noch hingeht. Das ist wahrscheinlich meine Art, mich dem Schmerz zu entziehen. Früher haben wir an Jom Hasikaron die Eltern der Söhne besucht, die im Jom-Kippur-Krieg getötet worden waren. Wir haben sehr darauf geachtet, zu den Familien Kontakt zu halten. Heute feiern wir nur noch den Jom Haazmaut. Aber die Freude am Gesang ist wie eine Hülle um die Trauer und die Erinnerungen, die wir in unseren Herzen tragen.

Welche Trauer fühlen Sie?
Es ist nicht nur Trauer, sondern wir stellen uns viele Fragen, vielleicht nicht am Unabhängigkeitstag selbst, aber an den anderen Tagen im Jahr. Wir alle haben uns nach dem Sechstagekrieg 1967 gefreut, wie groß und stark Israel ist. Aber dann kam das Trauma des Jom-Kippur-Krieges, und wir fingen an, aufzuwachen. Und in den 90er-Jahren haben wir verstanden, dass wir einen neuen Weg einschlagen müssen. Wir haben an Oslo und an den Friedensprozess geglaubt, aber dann wurde Yitzhak Rabin ermordet. Auch das war für uns ein Trauma. Als Juden haben wir unsere Ängste – und auch unsere Paranoia. Ich bin sicherlich ein ängstlicher Mensch. Und die Sorge, dass es einen schrecklichen Krieg geben könnte, die ist in meiner DNA verankert.

Sie haben jetzt eine Wohnung in Berlin gekauft. Wie fühlen Sie sich im Kreuzberger Bergmannkiez?
Berlin ist kein Ort für mich, der mir fremd wäre. Ich kenne die Sprache, meine Mutter hat Deutsch gesprochen, ich habe hier literarischen Erfolg. Ich brauche Israel, ich brauche unsere Heimatlieder am Jom Haazmaut. Aber meine Mutter hat sich immer nach der deutschen Sprache und der deutschen Kultur gesehnt. Und ich habe das Gefühl, das alles gehört auch mir. Ich finde Berlin jung, dynamisch, mit viel Sinn für Kunst und Kultur. Manchmal kann ich überhaupt nicht verstehen, warum man uns von hier vertrieben hat.

Ihre Mutter hat die Schoa überlebt. Was glauben Sie, würde sie zu Ihrer Berliner Wohnung sagen?
Ich kann nicht im Namen der Toten sprechen. Aber meine Mutter war ambivalent. Sie hat Deutschland nicht gehasst. Sie hasste die Deutschen, die ihr Böses angetan hatten, die grausam zu anderen Menschen waren. Ich weiß nicht, wie sie heute damit umgehen würde.

Eine Woche im Monat wollen Sie in Zukunft in Berlin verbringen, um zu arbeiten. Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich habe jetzt drei Jahre lang an einem Buch gearbeitet, von dem ich nicht wusste, ob es jemals erscheinen kann. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Friedensorganisationen im Ausland Treffen zwischen Israelis und Palästinensern organisiert, weil sie glaubten, so die Begeisterung für den Frieden wieder entfachen zu können. 2009, während der Militäraktion »Gegossenes Blei« in Gaza, wurde ich von einer Friedensorganisation angerufen und gebeten, schnellstmöglich nach Rom zu kommen, zu einem Treffen von Intellektuellen. Wir wurden in Zweiergruppen aufgeteilt. Ich war zusammen mit einem palästinensischen Universitätsprofessor, dessen Namen ich nicht nennen kann. Er wollte einen Film über eine friedensliebende israelische Familie drehen, und ich wollte ein Buch über einen palästinensischen Friedensaktivisten schreiben. Aber es gab unendlich viele Hindernisse, und er hat sich schließlich aus dem Projekt zurückgezogen.

Hat er seine Meinung geändert?
Er wurde bedroht, weil er Kontakte zu einer Israelin unterhielt. Ich weiß nicht genau, von wem. Er hatte Angst, mich in einem Hotel zu treffen, weil er nicht wusste, ob dort Leute von der Hamas oder der Fatah arbeiten. Seinem Vater gegenüber hat er mich als italienische Journalistin ausgegeben. Ich sagte ihm: »Ich verstehe doch gar kein Italienisch!« Und er meinte: »Macht nichts, mein Vater auch nicht.«

Wie hat sich die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem palästinensischen Kollegen entwickelt?
In meinem Buch schreibe ich über die unglaubliche Schwierigkeit, einen persönlichen Kontakt zwischen einer Israelin und einem Palästinenser herzustellen. Unsere Wertesysteme sind völlig unterschiedliche. In den drei Jahren unseres Kontaktes war ich nicht ein einziges Mal in der Lage, mit der Frau meines palästinensischen Bekannten Kaffee zu trinken. Sie serviert uns den Kaffee, aber sie sitzt nicht mit uns zusammen. Und auch unsere Familien haben sich nicht wirklich angefreundet, obwohl die Treffen für uns alle sehr spannend waren. Aber mein Mann hatte keine Zeit dafür, und die Kinder haben ihre eigenen Interessen.

Warum haben Sie das Projekt trotz dieser Schwierigkeiten nicht aufgegeben?
Weil ich glaube, dass man sich gegenseitig unterstützen und Kontakte pflegen kann, auch ohne enge Freundschaften zu schließen. Und wie gesagt, die israelische Gesellschaft ist in verschiedene Sektoren geteilt, die sich im Privaten kaum begegnen. Ich schreibe gerade auch ein Buch über Ultraorthodoxe, die ein neues Leben außerhalb ihres Sektors beginnen wollen. Das sind ganze Familien, Rabbiner und ihre Kinder. Für mich sind diese Begegnungen innerhalb von Israel wie Reisen in ein fremdes Land. In meinem ersten Buch »Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?« habe ich nur über mich selbst geschrieben, und jetzt habe ich genug davon. Jetzt bin ich neugierig, die anderen kennenzulernen und über sie zu schreiben. Auch über die, die ich bei den Feiern an Jom Haazmaut nicht in meinem Garten treffe.

Mit der israelischen Schriftstellerin sprach Ayala Goldmann.

Lizzie Doron wurde 1953 in Israel geboren und wuchs in einem Viertel im Süden Tel Avivs auf, in dem viele Holocaust-Überlebende wohnten. Auch ihre Mutter war Überlebende der Schoa, sprach aber mit ihrer Tochter kaum über die Zeit der Verfolgung. Mit 18 Jahren ging Doron in einen Kibbuz; später studierte sie Linguistik. Nach dem Tod ihrer Mutter schrieb sie, auf der Suche nach ihren Wurzeln, das Buch »Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?«. Es erschien 2004 auf Deutsch; weitere Bücher folgten. Lizzie Doron ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt im Norden Tel Avivs.

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