Interview

»Wir müssen unsere Führung auswechseln, denn sie hat versagt«

Lior Akerman bei einer Veranstaltung von Keren Hayesod in Stuttgart Foto: Keren Hayesod

Herr Akerman, vor knapp sechs Wochen haben Terroristen der Hamas Israel überfallen, Menschen getötet, Kinder und Erwachsene entführt. Wie erinnern Sie sich an den 7. Oktober?
Es war Samstagmorgen, Simchat Tora, 6.30 Uhr, und ich schlief. Ich hörte zwar den Alarm im der Ferne, aber ich verstand nicht, was passiert war. Ich schaute auf mein Telefon, sah die Schlagzeilen, sah, dass es mehrere Raketenangriffe auf Israel gab und las Meldungen, wonach Terrorzellen, nach Israel eingedrungen seien. Ich war bis abends 23 Uhr vor dem Fernseher, sah nach und nach die Bilder aus dem Süden, aber ich konnte noch nicht begreifen, was wirklich passiert war. Ich dachte, dass ein paar Terroristen nach Israel eingedrungen seien, ein paar Raketen abgefeuert wurden. Einige Leute erzählten mir plötzlich, dass es etwa tausend Tote geben soll. Ich konnte das nicht glauben, sagte, das sei unmöglich. Das ist doch wie in einem schlechten Film. Niemand in Israel hat je geglaubt, dass uns so etwas passieren kann. Leider gab es eine Menge Fehler, und wahrscheinlich ist der 7. Oktober deshalb passiert.

Das ist die Frage, die viele interessiert: Wie konnte der 7. Oktober geschehen?
Wenn der Krieg eines Tage vorbei sein wird, wird man alles untersuchen, um genau nachvollziehen zu können, was wirklich im Shin Bet, bei der Armee, der Polizei und an der Grenze schief gelaufen ist. Ich weiß, dass der Shin Bet in jener Nacht, bevor die Hamas-Operation begann, offenbar Informationen über einige Terrorzellen hatte, die über die Grenze, nach Israel einzudringen versuchten. Man schickte zehn Leute in den Süden Israels, um diese Terroristen aufzuhalten. Der Shin Bet hat auch die Armee im Süden darüber informiert, dass man Maßnahmen ergreifen werde, um ein Eindringen zu verhindern. Leider konnten die Terroristen ungehindert durch den Zaun kommen. Sie haben ihn an 20 Stellen gesprengt und sind nach Israel eingedrungen, in all die Kibbuzim. Gleichzeitig haben sie Raketen abgefeuert. Ich denke, dass es auf israelischer Seite eine Reihe von Versäumnissen gab.

Welche wären das?
Eines davon ist das der Armee. Das Problem ist, dass sie keine Panzer oder keine Hubschrauber an die Grenze geschickt haben. Sie haben zwar gesehen, dass etwas passiert, aber die Zivilisten blieben teilweise bis zu 15 Stunden lang allein – ohne Hilfe. Viele Leute, hochrangige Offiziere werden am Tag nach dem Krieg Rede und Antwort stehen müssen: einschließlich des Premierministers und aller Minister in der Regierung.

Wie haben Sie sich als ehemaliger Shin-Bet-Mitarbeiter gefühlt?
Auf der einen Seite habe ich während meiner gesamten Karriere alles gesehen. Die schlimmsten Terroranschläge in Israel seit 1987. Ich habe Orte gesehen, unmögliche Orte, an denen es Anschläge gab, Selbstmordattentäter und Leichen auf den Straßen. Ich habe alles gesehen, und trotzdem war ich schockiert. Niemand hat wirklich geglaubt, dass so etwas passieren kann, dass es in Israel passieren kann. Ich bin immer noch schockiert, und ich denke, dass die meisten israelischen Bürger immer noch nicht verstehen, was da wirklich passiert ist. Es ist sehr schwer zu verstehen, dass so viele Menschen an einem einzigen Tag ermordet wurden und dass so viele Menschen entführt wurden. Ich hoffe, dass sie alle lebend nach Israel zurückkehren werden, aber ich fürchte, es werden nicht alle sein. Wie alle anderen Bürger Israels auch, dachte ich, dass es ein großes Versagen des Geheimdienstes, der Armee und der Regierung war. Aber einem Gespräch mit dem Leiter des Shin Bet habe ich entnommen, dass sie wohl wussten, dass etwas passieren würde. Was sie nicht wussten, war, dass Tausende Hamas-Terroristen den Zaun überwinden würden. Aber sie wussten, dass einige Terrorzellen versuchen würden, nach Israel einzudringen, und deshalb informierte der Shin-Bet die Armee.

Woran lag es, dass zuerst keiner zur Stelle war?
Meines Erachtens lag der Hauptfehler darin, dass die Armee ihre Kräfte nicht früh genug geordnet hat, um dieses Eindringen zu verhindern. Aber: Wir leben heute im Staat Israel. Ich habe das schon vielen Menschen erzählt: Mein Vater ist Schoa-Überlebender, er war in Auschwitz und hat gesehen, wie sein Vater und seine Mutter vor seinen Augen ermordet wurden. Zehn Monate hat er dort überlebt. Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen. Und nun sehe ich, was passiert ist. Wir haben eine Art zweiten Holocaust erlebt. Aber dieses Mal geschah er in unserem Land, das gegründet wurde, um solche Dinge zu verhindern. Wir sind ein traumatisiertes Land. Ich hab erst kürzlich gesagt: Gott sei Dank sind meine Eltern nicht mehr am Leben, denn sie würden wahrscheinlich sterben, wenn sie vom 7. Oktober wüssten.

Was sollte Benjamin Netanjahu tun?
Ich muss zugeben, dass man als israelischer Premierminister in diesen Tagen wahrscheinlich nicht in der besten Situatuion ist. Wenn man Benjamin Netanjahu ist, ist es vielleicht noch schlimmer, denn einerseits ist man mitverantwortlich oder vielleicht sogar hauptverantwortlich für das, was passiert ist. Auf der anderen Seite ist er derjenige, der für den Erfolg der Armee im Gaza-Streifen verantwortlich ist. Netanjahu braucht den Sieg der israelischen Armee im Gaza-Streifen. Er weiß aber auch, dass die Geiseln lebend zurückkommen müssen, denn wenn sie alle sterben, ist das ein weiterer Misserfolg für ihn. Es ist also sehr kompliziert. Netanjahu hat offenbar eine Ahnung davon, dass seine politische Karriere beendet ist. Die meisten Israelis, einschließlich seiner eigenen Parteimitglieder, wissen, dass er nicht länger Premierminister von Israel sein wird. Die Armee tut unterdessen ihr Bestes, um die entführten Zivilisten nicht zu verletzen. Es ist kein schneller Krieg. Es wird langsam gehen, und ich hoffe, dass Israel letztendlich diese Ziele erreichen wird: nämlich zu gewinnen und die Hamas-Infrastruktur zu zerstören und die Geiseln lebend nach Hause zu bringen.

Wie sollte der erste Tag nach dem Krieg aussehen?
Der israelische Staat muss sich völlig erholen und wieder aufbauen – in vielerlei Hinsicht und in vielen Dingen. Zuallererst müssen alle Kommandeure und die führenden Politiker ihre Posten aufgeben. Sie sollten nach Hause gehen, wie man so schön sagt. Wir müssen unsere Führung auswechseln, denn sie hat versagt. Völlig versagt. Nicht nur im Krieg, nicht nur dabei, die israelische Zivilbevölkerung zu verteidigen, sondern bei allem, was im vergangenen Jahr in Israel passiert ist. Das war eine totale Katastrophe. Die israelische Regierung hat sich 2022 um nichts Wichtiges gekümmert. Die gesamte israelische Führung sollte sofort gehen. Ich denke aber auch, dass die Verantwortlichen bei der Armee und den anderen Institutionen ebenfalls gehen sollten. Das sind erstaunliche Menschen, sehr gute Offiziere, aber sie sind diejenigen, die für das, was passiert ist, verantwortlich sind. Wir müssen die Strukturen von Grund her neu aufbauen. Und: Israel sollte sich mit den Palästinensern befassen, denn auch das haben wir im vergangenen Jahr nicht getan.

Wie genau?
Präsident Biden hat es ja klar benannt: Nach dem Krieg sollte es Vereinbarungen und Abkommen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde geben.

Wie sehen Sie die »pro-palästinensischen« Demonstrationen, die weltweit stattfinden?
Die meisten Muslime in der Welt können offenbar nicht zwischen Palästinensern und der Hamas unterscheiden – oder wollen es nicht. Wenn sie für die Hamas demonstrieren, glauben sie, dass sie für die Rechte der Palästinenser auf die Straße gehen. Israel war immer das mächtigste Land im Nahen Osten. Die ganze Welt nimmt uns aber als Besatzer der Palästinenser wahr. Die meisten von denen, die demonstrieren, glauben, dass sie das palästinensische Volk unterstützen, aber: Die Hamas dient nicht den palästinensischen Interessen. Ihnen ist Palästina doch vollkommen egal. Und die Menschen verstehen nicht, dass die Hamas eine fundamentalistische islamische Terrororganisation ist. Die Hamas möchte alle Nationen im Nahen Osten zerstören, einschließlich Jordanien, Libanon, Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien, Irak. Sie will ein islamistisches Kalifat im gesamten Nahen Osten errichten. Für die Hamas sind alle Regime, auch die islamischen Regime, Ungläubige. Manchen Menschen klar zu machen, dass die Hamas keine Befreiungsorganisation ist, ist ein großes Problem.

Sie waren am Wochenende in Süddeutschland auf zwei Veranstaltungen von Keren Hayesod. Was verbindet Sie mit der Organisation?
In den vergangenen zwölf Jahren, seit ich aus dem Shin Bet ausgeschieden bin, habe ich eine Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben: Ich bin Kommentator in den israelischen Medien, Kolumnist bei der Zeitung Ma’ariv, und ich halte Vorträge unter anderem über Kommunikation, Sicherheit, Terror, Araber, Muslime, Juden und den Nahen Osten. Deswegen wurde ich von Keren Hayesod eingeladen. Aber für mich ist das viel mehr als nur Arbeit: Es ist eine Mission, weil ich das Gefühl habe, dass ich, seit ich aus dem Shin Bet ausgeschieden bin, mein Land unterstützen sollte.

Mit dem ehemaligen Brigadegeneral und Abteilungsleiter bei Shin Bet sprach Katrin Richter.

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