Laudatio

»Wie hält man so etwas aus?«

Liebe Karoline Preisler,

»Übertrieben!« war Ihre Antwort, als Sie auf eine Schlagzeile angesprochen wurden: Die »Bild«-Zeitung nannte Sie einmal »Deutschlands mutigste Demonstrantin«. Sie waren nicht stolz auf diesen Titel. Denn es ging Ihnen nicht um sich selbst. Es ging Ihnen um das Schicksal der israelischen Geiseln, die immer noch in der Hand der Hamas waren.

Heute, gut zwei Jahre nach dem schrecklichen 7. Oktober, sind wir einerseits bedeutende Schritte weiter. Nach der Friedensvereinbarung sind die letzten lebenden Geiseln zurück, wieder bei ihren Familien. Endlich! Der politische Wille gebietet es, und die Heiligkeit des Leichnams – im Judentum wie im Christentum – verlangt es, dass die Toten durch ihre Familien bestattet werden dürfen.

Andererseits: Nach der Rückkehr der Geiseln können wir einigen unangenehmen Fragen nicht mehr ausweichen: Wie hat sich unser Land in diesen zwei Jahren präsentiert Können wir nach dem furchtbaren Anstieg der antisemitischen Straftaten einfach wieder zur Tagesordnung zurückkehren?

Sie, liebe Frau Preisler, haben dieses veränderte Deutschland aus nächster Nähe kennengelernt. Sie haben es sich zugemutet. Denn es ist eine Zumutung, sich im Internet und auf der Straße schlimmsten Bedrohungen auszusetzen. Sich anspucken zu lassen. Zu ertragen, dass die Polizei vor der Schule der eigenen Kinder steht. Sich Woche für Woche mit Menschen zu konfrontieren, die sich jedem Gespräch verweigern. Die kein kritisches Wort über die Verbrechen der Hamas verlieren. Die ihre kleinen Söhne vorschicken, um Sie, Frau Preisler, sexistisch zu beleidigen.

Sie haben Vorkehrungen getroffen. Sie haben regelmäßig den Staatsschutz über Ihre Gegendemonstrationen informiert. Sie haben ein Armband getragen, über das Sie Alarm auslösen konnten. Sie haben sich eine stichfeste Weste zugelegt. Und Sie führten einen transparenten Schirm bei sich, weil man durch ihn die Wurfgeschosse besser sehen kann.

»Bewaffnet« waren Sie selbst nur mit einem Blumenstrauß und einem Pappschild. Sie sagten: »Niemand schlägt das Blumenmädchen.« Doch das stimmte leider nicht. Sie wurden an der Schulter verletzt, verfolgt, beraubt. Eine Flasche traf Sie am Kopf. Im März dieses Jahres griff man Sie mit einer Fahnenstange an. Im August versuchte man Ihnen eine Israelflagge zu entreißen. Sie nannten Ihr Buch »Demokratie aushalten!«. Wie hält man so etwas aus?

Ihre menschenfreundliche Renitenz wurde Ihnen in die Wiege gelegt. Sie kommen aus einem christlichen Elternhaus. Ihr Großvater war in der DDR Kirchenjurist, ab Anfang der 60er-Jahre wurde er von der Staatssicherheit überwacht. Er wurde verdächtigt, weil seine demokratischen Vorstellungen nicht mit den vorherrschenden kompatibel waren. Ihr Vater geriet Ende der 70er-Jahre ins Visier der Stasi. Und auch bei Ihnen öffnete die Stasi die Post. Da waren Sie 13.

»In politischen Diskussionen tritt Karoline konsequent auf und fordert auch andere zum Meinungsstreit heraus«, schrieb Ihre Lehrerin ins Zeugnis. Das war nicht lobend gemeint. Statt Abitur machten Sie eine Ausbildung in der Kirchenverwaltung. Sie lernten, wie man Wanzen in Telefonen und Steckdosen erkennt.

Und Sie trafen Rainer Eppelmann. Er wurde zu einem politischen Kompass. Der Mauerfall öffnete für Sie das Tor zur Freiheit. Sie konnten nun studieren, ein glücklicher, selbstbestimmter Mensch werden, weil – wie Sie erklärt haben – ich zitiere: »eine Gesellschaft gesagt hat, ich warte auf dich, und mir dafür jede Hilfe gewährt hat«. Zitatende.

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Ihr christlicher Glaube blieb Ihr ständiger Begleiter, genauso wie ein rosafarbener Plastiklöffel. Unmittelbar nach dem Mauerfall fuhren Sie öfter in den Westen. Sie waren schwanger und hatten sich dort immer Joghurt gekauft. Sie sagten – ich zitiere: »Wenn sie die Mauer jetzt doch wieder zumachen, hab‘ ich wenigstens Joghurt dabei – und einen Löffel.« Ein Plastiklöffel als Symbol dafür, wie unsicher die Freiheit sein kann.

Liebe Frau Preisler! Sie haben eine eigene Protestform entwickelt. Seit 2012 stellen Sie sich als aufrechte Einzelkämpferin Demonstrationen entgegen. Gegen Extremisten, gegen Verschwörungstheoretiker, gegen Israelhasser. Nach Ihrer schweren Corona-Erkrankung verspürten Sie auf den Querdenker-Demos »demokratische Atemnot«. Spätestens jetzt wurde für Sie diese Frage zum Handlungsauftrag: Was sind unsere Prinzipien wert, wenn wir nicht für sie eintreten?

»Der 7. Oktober hat mich zur Feministin gemacht«, sagten Sie einmal. Mit Ihrer bloßen Anwesenheit haben Sie dem Hass, der Intoleranz und den Einschüchterungsversuchen etwas entgegengesetzt, mit dem die Demonstranten überfordert waren: wenige Worte auf einem Schild – und ein freundliches Gesicht, das eine klare Grenze markierte.

Sie haben Ihre Erfahrungen nun in einem neuen Buch niedergeschrieben. »Streit und Straßenkampf« haben Sie es genannt. Morgen ist die Buchpräsentation. Ich wünsche diesem wichtigen Bericht viele Leserinnen und Leser.

Ihr Einsatz für Demokratie, Weltoffenheit und Menschenwürde berührt auch uns als Gesellschaft: Er erinnert uns daran, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist – und dass Freiheit unser aller Einsatz verdient.

Meine Damen und Herren! Antisemitismus und Antizionismus breiten sich aus. Wir müssen erkennen, dass jede Beschimpfung, jede Bedrohung, jeder Übergriff auch immer eine Herausforderung der offenen Gesellschaft ist. Und – das sage ich auch selbstkritisch in die eigene Richtung – wir haben zugelassen, dass aus richtigen politischen Forderungen leere Formeln geworden sind.

Was bedeutet »Nie wieder ist jetzt«, wenn es trotzdem wieder und wieder geschieht? Was bedeutet »Wir treten Antisemitismus entschlossen entgegen«, wenn sich Antisemiten immer offener bekennen?

Und was bedeutet »Antisemitismus hat bei uns keinen Platz«, wenn er immer größeren Raum einnimmt? Es ist ein Wunsch. Es ist keine Zustandsbeschreibung. Wenn wir wollen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht, dann müssen wir die Forderungen mit Leben füllen.

Dann müssen wir selbst beweisen, dass wir für Freiheit, Toleranz und die Wahrung der Menschenwürde einstehen. Jeder so, wie er kann. Jede so, wie sie kann. Das haben Sie, liebe Frau Preisler, getan. Sie haben gezeigt, dass ein kraftvoller Einsatz für die Freiheit auch als Einzelperson möglich ist – lediglich mit einem bedruckten Papier. Dass man nicht machtlos sein muss. Dass Zivilcourage nicht immer Heldenkraft braucht, aber Mut und Entschlossenheit – und die Überzeugung, dass es sich lohnt.

Wie viele Menschen haben Sie ermutigt, selbst Position zu beziehen? Wie vielen haben Sie gezeigt, dass man nicht wegschauen muss? Überlebende des 7. Oktober haben sich bei Ihnen bedankt. Vielen im Land haben Sie mit Ihrem Einsatz Hoffnung gegeben. Hierfür danke ich Ihnen von Herzen!

Meine Damen und Herren! Im Jahr 2002 sagte Paul Spiegel im Niedersächsischen Landtag, anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus – ich zitiere: »Deutschland ist kein antisemitisches und rechtsradikales Land, aber es darf auch keines werden! (…) Es muss für unsere Kinder und Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit sein, in Respekt vor allen Menschen aufzuwachsen (…). Jeder, der versucht, jungen Menschen etwas anderes einzuflüstern, ist ein Feind der Demokratie und ihrer Werte.«

Liebe Frau Preisler! Diese Werte zu leben und zu vermitteln, haben Sie sich zur Aufgabe gemacht. Für Ihren außergewöhnlichen Mut, für Ihren freundlichen Widerstand, für Ihr unerschütterliches Festhalten an demokratischen Werten werden Sie heute geehrt. Eingangs sprach ich von Ihren »Waffen!: dem Pappschild und dem Blumenstrauß. Ganze Revolutionen sind nach Blumen benannt worden – von der Nelken-Revolution in Portugal 1974 über Rosen und Tulpen bis hin zur Jasmin-Revolution 2011.

Ich hoffe, Sie tragen noch immer diesen rosafarbenen Plastiklöffel bei sich. Nicht mehr aus Angst, dass die Freiheit wieder verschwindet. Sondern als Erinnerung daran, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Herzlichen Glückwunsch!

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