Dass es massive Versäumnisse im Vorfeld des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 gegeben hat – sowohl im politischen als auch im Sicherheitsbereich –, steht für die meisten Israelis außer Frage. 70 Prozent der Bevölkerung verlangen eine unabhängige Kommission, die das Geschehene aufarbeitet. Doch während Armee und Inlandsgeheimdienst Schin Bet Untersuchungen zugelassen haben, lehnt die Regierung dies auch zwei Jahre nach dem Schwarzen Schabbat mit mehr als 1200 Toten und 251 Geiseln auf israelischer Seite kategorisch ab.
Stattdessen wird sie eine politisch ernannte »Sonderkommission« einrichten. Am Dienstag gab Regierungssekretär Yossi Fuchs bekannt, dass Justizminister Yariv Levin den Ministerrat leiten wird, der die Befugnisse der staatlichen Untersuchung festlegen soll. Der erklärte: »Die gravierendsten politischen Versäumnisse, die zum Anschlag der Hamas am 7. Oktober führten, waren die Oslo-Abkommen von 1993 und der Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005.«
Die beiden rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich (Finanzen) und Itamar Ben-Gvir (Nationale Sicherheit) gehören ebenfalls dem Gremium an.
Massive Kritik
Die Koalition unterstrich bei der Verkündigung, der Regierungsausschuss solle »unabhängig« sein, über uneingeschränkte Ermittlungsbefugnisse verfügen, und man werde sich bemühen, dass »seine Zusammensetzung eine möglichst breite öffentliche Zustimmung« findet.
Die Entscheidung stößt bei Überlebenden der Massaker und ihren Angehörigen sowie bei Rechtsexperten und den Oppositionsparteien auf massive Kritik. Sie argumentieren, nur eine völlig unabhängige Untersuchung könne die Versäumnisse aufdecken, die zu dem verheerendsten Angriff auf Juden seit der Schoa führten.
Vor Bekanntgabe der Entscheidung hatte die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu die Einsetzung einer unabhängigen staatlichen Kommission – nach israelischem Recht der mächtigste Untersuchungsmechanismus – formell abgelehnt und stattdessen ein Gesetz für jene Sonderkommission vorangetrieben.
»Nur eine unabhängige Kommission kann die blutende Wunde des 7. Oktober heilen.«
Dana Blander, Juristin
In einer Eingabe an den Obersten Gerichtshof argumentierte das Team des Premierministers: »Das entsprechende Gesetz legt ausdrücklich fest, dass die Regierung über die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission entscheiden kann«, und warnte, ein richterliches Eingreifen »würde den Grundsatz der Gewaltenteilung und das System der gegenseitigen Kontrolle untergraben.« Netanjahu hat wiederholt erklärt, eine Untersuchung sei erst nach dem Krieg möglich, und sagte der Knesset: »Der Krieg ist noch nicht vorbei.«
Während die Regierung eine unabhängige Untersuchung ablehnt, führten sowohl die israelische Armee (IDF) als auch der Inlandsgeheimdienst Schin Bet bereits vor Monaten interne Untersuchungen durch. Die IDF räumte öffentlich schwerwiegende operative und nachrichtendienstliche Versäumnisse ein.
Ohne Gerechtigkeit
Auch Schin-Bet-Direktor Ronen Bar übernahm öffentlich die Verantwortung dafür, dass der israelische Inlandsgeheimdienst die Massaker des 7. Oktober nicht verhindert habe. »Als Leiter der Organisation werde ich diese schwere Last mein Leben lang tragen.«
Kritiker beharren darauf, dass nur eine völlig unabhängige staatliche Kommission politische Entscheidungen, Sicherheitslücken und systemische Schwächen aufklären kann. Wie Hinterbliebene und Rechtsexperten argumentieren, riskiere Israel ohne eine derartige Kommission, die Fehler zu wiederholen, die zum Angriff der Terrororganisation führten, und die Überlebenden und die Toten ohne Gerechtigkeit zurückzulassen.
Die Opposition hat klare Worte für die Entscheidung der Regierung: Sie wolle sich »aus der Verantwortung ziehen«, sagte Oppositionsführer Yair Lapid von der Zentrumspartei Jesch Atid. »Die Nicht-Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission bedeutet, dass sich die Katastrophe vom 7. Oktober jederzeit wiederholen kann. Denn wenn wir nicht untersuchen, was zu dieser Katastrophe geführt hat, können wir keine Lehren daraus ziehen.«
Die Überlebenden der Massaker und die Angehörigen von Opfern gehören zu den lautesten Stimmen, die eine staatliche Untersuchung fordern. Für Hila Abir, deren Bruder beim Nova-Festival von Terroristen ermordet wurde, ist es schwer, nicht zu wissen, was zu den tödlichen Angriffen führte. »Diese Tatsache zwingt uns, den 7. Oktober jeden Tag aufs Neue zu durchleben. Ohne Antworten kann es keinen Heilungsprozess geben.« Vertreter des sogenannten Oktober-Rates, einer Gruppe von Überlebenden und Angehörigen, wandten sich in einem offenen Brief an die Knessetabgeordneten: »Wir, die Familien der Opfer der Massaker vom 7. Oktober, fordern die Regierung auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen. Wir werden uns geschlossen gegen jeden Versuch einer politisch motivierten Kommission zur Vertuschung stellen. Wir akzeptieren kein Gremium, in dem die, gegen die ermittelt wird, die Ermittler bestimmen.« Umfragen des Israel Democracy Institute (IDI) zeigen, dass rund 70 Prozent der Israelis eine unabhängige staatliche Untersuchung befürworten, darunter auch fast 60 Prozent der Wähler rechtsgerichteter Gruppen.
Vertrauensverlust
Die Juristin des IDI, Dana Blander, hebt hervor, dass die Regierung, indem sie die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission verweigert, »den Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit verschärft und uns der nächsten Katastrophe näherbringt«. Blander ist überzeugt: »Nur eine unabhängige, überparteiliche Institution mit der Befugnis, Zeugen vorzuladen, die Vorlage von Dokumenten zu erzwingen und Empfehlungen auszusprechen, kann das Gesamtbild untersuchen.« Dabei gehe es um das »Urteilsvermögen und das Verhalten der politischen und sicherheitspolitischen Führung sowie die Entscheidungsprozesse innerhalb der Regierung«, so Blander.
»Verantwortung zu übernehmen bedeutet, anderen gegenüber menschlich zu handeln, der Öffentlichkeit in die Augen zu sehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Nur eine unabhängige Kommission kann die blutende Wunde des 7. Oktober heilen.«