Aufklärung

Wie konnte der 7. Oktober geschehen?

Israelische Soldatinnen auf dem Gelände des Nova-Festivals Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Sie versteckten sich im Sicherheitsraum unter dem Bett, während draußen Maschinenpistolensalven pausenlos die Luft zerfetzten. 21 endlose Stunden waren Avidor Schwartzman und seine Frau Keren Flash mit ihrem Baby in höchster Todesangst gefangen. Die junge Familie überlebte das Massaker der Hamas-Terroristen im Kibbuz Kfar Aza. Doch sie ist für immer gezeichnet.

Wie viele andere Betroffene wollen auch sie wissen, wie es zu der schlimmsten Katastrophe in Israels Geschichte kommen konnte, und warum die Rettungskräfte so lange auf sich warten ließen. Wie Terroristen an einigen Orten einen ganzen Tag lang ungestört morden und marodieren konnten, weshalb sie Zeit hatten, mehr als 1200 Menschen zu töten und 253 nach Gaza zu verschleppen, ist zu großen Teilen noch immer unklar.

Beobachtungen der Späherinnen nicht zur Kenntnis genommen

Unklar ist auch, warum die Beobachtungen der Späherinnen, die in der Armeebasis Nahal Oz dienten, nicht zur Kenntnis genommen wurden. Monatelang hatten die jungen Soldatinnen gewarnt, dass sich jenseits des Zaunes etwas »Unheimliches« zusammenbraue. Amit Yerushalmi, die ihren Dienst dort vor Kriegsausbruch beendete, sprach vor Kurzem vor der zivilen Untersuchungskommission darüber. Das Gremium wurde von Hinterbliebenen eingerichtet, um »die Wahrheit herauszufinden und die nächste Katastrophe zu verhindern«.

»Ich sah Trainingseinheiten der Hamas, manchmal ein- oder zweimal im Monat. Später fingen sie an, öfter zu trainieren, sogar mehrmals am Tag«, sagte Yerushalmi. Sie und ihre Kameradinnen hätten ihren Vorgesetzten alles berichtet. »Wir saßen zwei Jahre dort und waren sicher, dass unsere Kommandanten etwas mit den Informationen tun. Aber nach allem, was geschehen ist, weiß ich, dass dem nicht so war.« Auch die 19-jährige Roni Eshel war Späherin. Sie wurde ermordet. »Wir werden nicht nachgeben, bis es eine staatliche Untersuchungskommission gibt«, machte ihr Vater Eyal Eshel klar. »Die Stimme unserer Mädchen wurde zum Schweigen gebracht. Aber wir werden nicht schweigen.«

Während offizielle Retter auf sich warten ließen, suchten sich einige Israelis persönliche Helden. Wie Nir Gontarz, der Vater des 23-jährigen Amir. Sein Sohn hatte ihm Dutzende Male seine Position in der Nähe des Nova-Festivals geschickt, wo er von Terroristen umzingelt war. Hilfe kam in Gestalt von Yair Golan, einem ehemaligen Knessetabgeordneten und Generalmajor in der israelischen Armee (IDF). Der zog auf eigene Faust die Uniform an, nahm seine Waffe, fuhr gen Süden und rettete Menschenleben. Auch das von Amir.

»Wenn es keine Antworten gibt, gibt es auch keinen Heilungsprozess.«

Hila Abir

Lotan Abir gehört nicht zu den Glücklichen. Er wurde am selben Ort kaltblütig ermordet. Seine Angehörigen haben mit anderen Opferfamilien eine Petition beim Obersten Gerichtshof eingereicht, die eine sofortige staatliche Untersuchung fordert. »Wir wissen nichts und müssen deshalb den 7. Oktober jeden Tag neu durchleben«, sagt Hila Abir, Lotans Schwester. »Wenn es keine Antworten gibt, dann gibt es auch keinen Heilungsprozess.«

Angehörige fordern Antworten

Auch andere Angehörige fordern Antworten. Am Eingang zum Partygelände des Nova-Festivals kam es zu einem Gefecht, bei dem Terroristen mit Gewehren, Granaten und Panzerabwehrraketen die wenigen Polizisten und Zivilisten überwältigten, die versuchten, sie aufzuhalten. In einem Bericht von Channel 12 heißt es, dass die Polizei im Voraus keine Geheimdienstwarnung erhalten habe und das Wissen über eine große Party in Grenznähe nicht an alle IDF-Stellen weitergegeben worden sei.

Große Truppenteile trafen erst gegen Mittag am Ort des Grauens ein, als 350 meist junge Menschen bereits tot waren. Dem Bericht zufolge habe aber die Entscheidung von Polizeibeamten, die Party in den ersten Minuten der Invasion zu stoppen, Fluchtwege freizugeben und die Teilnehmer zu zerstreuen, viele Leben gerettet. »Die Ergebnisse stellen keine Ermittlung der IDF dar. Das Massaker wird derzeit untersucht und ist noch nicht abgeschlossen«, kommentierte die Armee den Bericht.

Trotz immer lauter werdender Forderungen, darunter von seinem Verteidigungsminister, weigert sich Premier Benjamin Netanjahu bisher, eine staatliche Untersuchungskommission zu den politischen Versäumnissen im Vorfeld des 7. Oktober einzurichten. Während­dessen haben die Führungen von Armee und Geheimdiensten schon längst Verantwortung übernommen.

Grenzdurchbruch, ohne dass die IDF reagierte

Die IDF hat mittlerweile mit internen Untersuchungen begonnen, unter anderem über das völlige Versagen beim Schutz des Kibbuz Be’eri. Bewohner erklärten daraufhin, dass sie der Tatsache, dass die IDF die Verantwortung übernimmt, »große Bedeutung beimessen«. Allerdings blieb Kritisches unbeantwortet: »Warum kamen viele Soldaten, die sich am Tor versammelten, nicht in den Kibbuz, während die Häuser brannten und die Menschen um Hilfe schrien?«, wollen die Bewohner wissen. »Was war die Ursache für das Geheimdienstversagen, das die Hamas-Infiltration ermöglichte?« Und: »Wie konnte es zum Grenzdurchbruch kommen, ohne dass die IDF reagierte?«

Gadi Yarkoni, Vorsitzender des Regionalrats von Eschkol, ist wütend und enttäuscht, dass fast ein Jahr vergangen ist und die Regierung jegliche Erklärung verweigert. »Niemand ist verantwortlich, niemand ist schuld. Dies ist die größte Katastrophe in der Geschichte des Landes, und die gesamte politische und militärische Führung ist wie erstarrt.«

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