Am Ende kamen die Sanktionsvorschläge der Europäischen Kommission schneller als gedacht. Viele Beobachter in Brüssel zweifeln aber, dass sie überhaupt umgesetzt werden.
Am Mittwoch vergangener Woche hatte Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg Sanktionen gegen Israel wegen des Kriegs in Gaza angekündigt. Sieben Tage später beschlossen sie und ihre 26 Kommissare entsprechende Vorschläge. Die Außenbeauftragte und Kommissionsvizepräsidentin Kaja Kallas sagte in der anschließenden Pressekonferenz, die jüngste Offensive der IDF in Gaza-Stadt sei für die EU inakzeptabel. »Unser Ziel ist nicht, Israel zu bestrafen. Das Ziel ist, die humanitäre Lage in Gaza zu verbessern«, sagte Kallas. Die öffentliche Meinung in Europa habe sich verändert. Auch das verlange nach einer härteren Gangart.
Im Mittelpunkt steht die Aussetzung aller Handelsvergünstigungen, welche die EU Israel momentan einräumt. Außerdem will die Kommission mit sofortiger Wirkung die Auszahlung von EU-Fördergeldern im Wert von insgesamt 20 Millionen Euro stoppen. Betroffen wären auch Programme zur Förderung der regionalen Zusammenarbeit im Rahmen der Abraham-Abkommen. Selbst für bereits laufende Vorhaben will die Kommission den Geldhahn zudrehen. Ausgenommen sind aber ausdrücklich EU-Zuschüsse für zivilgesellschaftliche Projekte in Israel und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Ihre Förderung für die Palästinenser will die EU hingegen noch ausweiten. Zudem soll nach dem Willen die EU ein neuer Anlauf unternommen werden, die beiden rechtsextremen israelischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich sowie gewalttätige israelische Siedler im Westjordanland mit Strafmaßnahmen zu belegen. Darunter ist ein Einreiseverbot in die Länder der Europäischen Union.
Um wenigstens einen Anschein von Ausgewogenheit zu wahren, schlug die Kommission den Mitgliedsstaaten zudem vor, auch zehn Mitglieder des erweiterten Hamas-Politbüros zu sanktionieren. Die Hamas wird seit mehr als 20 Jahren von der EU als Terrororganisation gelistet. Für die Umsetzung der Sanktionsvorschläge braucht es allerdings einen einstimmigen Beschluss der 27 Mitgliedsstaaten.
Doch der wichtigste Aspekt der nun in Brüssel vorgestellten Maßnahmen ist der Wegfall von Handelserleichterungen, die die EU Israel bislang gewährt. Auf viele in die Europäische Union eingeführte israelische Waren, darunter Maschinen, Chemikalien und landwirtschaftliche Erzeugnisse, sollen nach dem Willen der Kommission künftig Einfuhrzölle erhoben werden.
Deren Höhe wird sich, falls der Vorschlag von einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten gebilligt wird, nach dem von der Welthandelsorganisation (WTO) festgelegten »Most Favoured Nation«-Satz richten. Dieser variiert je nach Produktkategorie, ist aber für alle WTO-Mitgliedsstaaten gleich. Israel würde demnach genauso behandelt wie Staaten, mit denen die EU kein Handelsabkommen hat.
Die EU-Kommission schätzt, dass rund 37 Prozent aller in die EU eingeführten israelischen Waren von der Maßnahme betroffen wären. Das entspricht einem Wert von rund 4,7 Milliarden Euro. Europäische Importeure müssten diesen Annahmen zufolge zusätzliche Zölle im Wert von 227 Millionen Euro entrichten. Die EU-Exporte nach Israel würden sich hingegen um 570 Millionen Euro verteuern.
Die restlichen 63 Prozent der EU-Importe aus Israel genießen keine Vorzugsbehandlung und fallen bereits jetzt unter die MFN-Sätze. Da dies auch bei Dienstleistungen keine Besserstellung für israelische Unternehmen durch die EU gibt, hat sich die Kommission bei ihren Vorschlägen, die der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der 27 Mitgliedsstaaten bedürfen, auf den Handel mit Waren konzentriert.
Israel könnte Gegenmaßnahmen ergreifen
Nach den letzten Zahlen wurden 2024 Waren im Wert von 15,9 Milliarden Euro aus Israel in die EU eingeführt. Für Israel ist die Europäische Union mit Abstand der größte Handelspartner. Rund ein Drittel der israelischen Exporte aus Israel gehen in die EU. Exporte aus der EU nach Israel haben mit 26,7 Milliarden Euro aber ein deutlich größeres Volumen. Sollte Jerusalem Gegenmaßnahmen beschließen, könnte dies auch zahlreiche EU-Exporte nach Israel verteuern.
Dennoch betonten Kommissionsbeamte am Mittwoch, dass nach den WTO-Regeln für 70 Prozent aller Waren, die aus der EU nach Israel verkauft werden, schon jetzt keine Zölle anfallen, da der MFN-Satz auf sie bei Null liegt. Dennoch wären Ausfuhren im Wert von immerhin 8 Milliarden Euro jährlich von möglichen israelischen Gegenmaßnahmen betroffen.

Ob eine sogenannte qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten dem Vorschlag zustimmt, erscheint zweifelhaft. Er braucht das Plazet von 15 Ländern, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Zwar ist der politische Druck auf Israel und die Empörung über das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza in vielen EU-Staaten, vor allem in Westeuropa, zuletzt angewachsen. Doch Bulgarien, Italien, Österreich, Tschechien und Ungarn haben sich bislang Strafmaßnahmen widersetzt.
Auch Deutschland lehnt die meisten Vorstöße ab, unterstützt aber Sanktionen gegen extremistische israelische Siedler. Der Vorschlag der Kommission vom Juli, Israels Beteiligung am Forschungsförderprogramm Horizon Europe teilweise auszusetzen, hat bislang nicht die notwendige Mehrheit gefunden und liegt auf Eis.
Kommt eine Mehrheit für die Vorschläge zustande?
Von der Leyens abrupter Kurswechsel, der für viele Beobachter überraschend kam, könnte auch taktischer Natur gewesen sein. Die Kommissionspräsidentin, die sich im Oktober erneut zwei Misstrauensanträgen im Europäischen Parlament stellen muss, möchte den schwarzen Peter den Mitgliedsstaaten zuschieben, die den Großteil ihrer Vorschläge absegnen müssen.
Die israelische Regierung will verhindern, dass ein Mehrheitsbeschluss der 27 zustande kommt. Denn die Aussetzung zentraler Teile des Kooperationsabkommens zwischen der EU und Israel wäre nicht nur zum Nachteil der israelischen Unternehmen. Er würde auch einen gewaltigen Reputationsschaden für den jüdischen Staat nach sich ziehen. Israel stünde dann nämlich auf einer Stufe mit Ländern wie Russland, Iran oder Myanmar, die die EU ebenfalls mit Sanktionen belegt hat.
Die Kommission betonte zwar, man sei jederzeit zum Dialog mit Jerusalem bereit und behalte sich vor, im Fall einer Verbesserung der Lage in Gaza die angekündigten Sanktionen wieder zurückzuziehen. Gleichzeitig aber machten Offizielle deutlich, dass es Brüssel nicht in erster Linie um wirtschaftliche Fragen, sondern um den Respekt grundlegender Prinzipien und die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts geht. Israel sieht sein Vorgehen gegen den Terror der Hamas in Gaza als gerechtfertigt an.
Vergiftetes Gesprächsklima
Das Gesprächsklima zwischen Brüssel und Jerusalem ist seit längerem vergiftet. Das am Mittwoch vorgestellte Sanktionspaket der EU dürfte es nicht verbessern. In einem Brief an Ursula von der Leyen hat Israels Außenminister Gideon Sa’ar bereits klargemacht, dass Jerusalem sich unfair behandelt fühlt und die Vorschläge der Kommissionspräsidentin als »beispiellosen« Schritt ansehe, der von der EU noch nie gegen ein anderes Land angewendet worden sei.
Das stelle »einen klaren Versuch dar, Israel zu schaden, während wir einen Krieg führen, der uns nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober – dem größten Massaker an Juden seit dem Holocaust – aufgezwungen wurde«.
Als EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič in der Pressekonferenz von einem Journalisten gefragt wurde, ob er wirklich glaube, dass die nun gemachten Sanktionsvorschläge geeignet seien, Israels Offensive im Gazastreifen zu stoppen, zögerte er merklich, bevor er eine ausweichende Antwort gab. »Ich bin kein Freund von Strafzöllen«, sagte Šefčovič, aber das sei nun mal die angemessene Antwort auf das »humanitäre Desaster« in Gaza.
Österreichischer Kommissar warnt vor Boykotten gegen Israel
Offenbar stieß die Idee, Israel mit Sanktionen zu belegen, nicht bei allen Kommissaren auf große Gegenliebe. So wies nach Informationen der »Jüdischen Allgemeinen« der österreichische Kommissar Magnus Brunner in der Sitzung der Kommissare darauf hin, das Israel nicht nur die einzige Demokratie im Nahen Osten sei, sondern auch ein enger Verbündeter Europas. Zudem verwies Brunner auf den wachsenden Antisemitismus und kritisierte die wachsende Zahl an Boykottforderungen gegenüber israelischen und jüdischen Künstlern in Europa.
Derweil gehen vielen Israel-Kritiker in der EU, vor allem in Mitgliedsstaaten wie Irland und Spanien, die jetzt vorgeschlagenen Strafmaßnahmen nicht weit genug. Sie fordern zum Beispiel, dass die EU die Einfuhr von Waren aus israelischen Siedlungen im Westjordanland ganz verbieten solle. Doch diesen Schritt wollte die Kommission am Mittwoch noch nicht in Betracht ziehen. Erst einmal gelte es, die jetzt gemachten Vorschläge zu verwirklichen.