Es war eins der Bilder, auf das die Welt hin gefiebert hatte: das Wiedersehen der beiden Liebenden Noa Argamani und Avinatan Or. Und dann, am Montagnachmittag, ist es so weit: Die 28-jährige Noa wartet in einem Raum der Militärbasis Re’im, als Avinatan durch die Tür kommt. Dünn ist der 1,97 Meter große Mann geworden. Doch er zögert keine Sekunde, läuft auf seine Freundin zu und umarmt sie so fest, dass sie zusammen auf ein Bett fallen. »Noa Argamani, ich liebe Dich«, ruft er. Sie lachen, halten sich im Arm und schauen sich immer wieder in die Augen.
738 Tage lang waren die beiden kaum mehr als eine Autostunde voneinander getrennt und doch unerreichbar füreinander. Am 7. Oktober 2023 war das junge Paar zum Nova-Musikfestival gefahren, um gemeinsam mit Freunden die Nacht durchzutanzen. Doch innerhalb weniger Stunden wurde das Gelände zu einem grausamen Blutbad, als bis an die Zähne bewaffnete Horden der Hamas die jungen Menschen jagten, vergewaltigten, ermordeten.
Symbol für Liebende, die die Hamas getrennt hatte
Die Welt sah entsetzt zu, wie ein Video, das Terroristen am Tag darauf veröffentlichten, Argamani zeigt, wie sie auf einem Motorrad weggefahren wird. »Tötet mich nicht!« schreit sie und greift völlig entsetzt nach ihrem Freund. Doch der wird mit hängendem Kopf von bewaffneten Männern weggeführt. Das verzweifelte Bild wurde zum Symbol für alle Paare, die durch den Horror der Hamas getrennt wurden. Viele für immer.
Monate vergingen. Argamanis Mutter Liora, die gegen Krebs im Endstadium kämpfte, appellierte permanent öffentlich für die Rückkehr ihrer Tochter. »Ich möchte meine Noa noch einmal sehen«, flehte sie. Als die Geisel im Juni 2024 bei einer waghalsigen Rettungsoperation mitten in Gaza von israelischen Streitkräften gerettet wird, waren ihre ersten Worte: »Wie geht es meiner Mutter? Ich will sie sehen.« Sie erreichte das Krankenhaus rechtzeitig. Drei Wochen später starb Liora Argamani, mit ihrer Tochter neben sich.
Doch selbst in Freiheit blieb ein Teil der jungen Frau in Gaza gefangen. »Jede Nacht schlief ich in Gaza mit dem Gedanken ein, es könnte meine letzte sein«, erzählte sie später. »Als ich nach Hause kam, empfand ich Freude – und Schmerz zugleich. Denn Avinatan war noch immer dort.«
Noa Argamani: »Jede Nacht schlief ich in Gaza mit dem Gedanken ein, es könnte meine letzte sein. Als ich freigelassen wurde, empfand ich Freude – und Schmerz. Avinatan war noch immer dort.«
Nach ihrer Befreiung wurde sie zur Kämpferin für ihren Freund und alle Geiseln. Sie reiste um die Welt, traf US-Präsident Donald Trump und viele weitere Staats- und Regierungschefs. Die ganze Zeit über verspricht sie, nicht aufzugeben, bis Avinatan zurück ist. Doch erst im März 2025 gibt es ein Lebenszeichen von ihm. Damals schreibt seine Freundin auf Instagram: »Bis Avinatan nach Hause kommt, bleibt mein Herz in Gefangenschaft.«
Doch schließlich wird das Versprechen eingelöst: Am 13. Oktober 2025 kommt er zusammen mit 19 anderen lebenden Geiseln im Rahmen eines von den USA vermittelten Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas in Freiheit. Zwei Jahre lang gab es keine einzige Aufnahme von dem Mann. Beim ersten Bild von ihm weinen seine Angehörigen – und Noa auch. Es zeigt ihn völlig abgemagert in einem Armeehemd der IDF, mit Schnurrbart und Sonnenbrille als Schutz für seine Augen nach der langen Zeit in Dunkelheit. Doch er lebt, redet und steht auf den eigenen Beinen.
Der 32-Jährige, erzählt sein Vater Yaron Or, kurz darauf, sei zwei volle Jahre lang völlig allein und isoliert in einem Tunnel festgehalten worden. Er habe nur sehr wenig Essen erhalten und 30 bis 40 Prozent seines Körpergewichtes verloren. Nach einem Fluchtversuch aus einem Tunnel sei er monatelang in einem Käfig, der kleiner war als er, angekettet gewesen.
»Er war unter extrem harten Bedingungen permanent allein unter der Erde. Er hatte weder Zugang zu Medien noch Bücher. Nach einigen Monaten gaben sie ihm einen Rubik‹s Zauberwürfel. Das war alles. Sonst hatte er nichts«, berichtet der Vater. »Körperlich muss er sich noch erholen. Aber geistig ist er Gott sei Dank derselbe Avinatan – derselbe Humor, dieselbe Stärke. Ja, er ist sogar noch stärker geworden.« Er wisse nicht, wie sein Sohn das überstanden hat, so Or. »Er ist eben ein ganz besonderer Mensch.«
738 Tage war das junge Paar getrennt
Das findet auch seine Freundin. »Zwei Jahre sind vergangen, seit ich Avinatan, die Liebe meines Lebens, zum letzten Mal sah«, schreibt sie nach der Freilassung in den sozialen Medien. »Zwei Jahre seit dem Moment, als Terroristen uns entführten und mich vor den Augen der Welt von Avinatan wegrissen.«
738 Tage lang trennten Krieg, Dunkelheit und Schweigen das Paar. Doch an diesem Montag, dem historischen Tag für Israel, stehen sie Seite an Seite und beweisen, dass Liebe alle Grenzen überwinden kann. »Trotz aller Widrigkeiten und nachdem wir dem Tod unzählige Male ins Auge geblickt hatten, kamen wir nach Hause und sind wieder vereint«, schreibt die junge Israelin weiter.
Die überwältigenden Gefühle des Wiedersehens könne sie kaum beschreiben. »Ich kann die Bandbreite meiner Gefühle, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, schwer in Worte fassen. Jeder von uns hat unzählige Male mit dem Tod gerechnet, und doch machen wir nach zwei Jahren der Trennung endlich unseren ersten gemeinsamen Schritt in Israel. Wir können endlich zusammen mit unserer Rehabilitation beginnen. Es ist noch ein langer Weg, wir haben nicht wirklich verarbeitet, was wir durchgemacht haben.« Klar aber sei: »Wir haben gewonnen. Wir sind zurück!«
Arm in Arm gehen in die beiden in einen Hubschrauber, der sie zu ersten Untersuchungen ins Krankenhaus nach Tel Aviv fliegt. In die Stadt, wo sie sich vor dem Angriff der Hamas eine gemeinsame Wohnung suchen wollten. Avinatan Or sitzt zwischen seiner Freundin und seiner Mutter und hält ihre Hände. Auf eine Tafel schreibt er dann: »Nur die Liebe ist der Sieg.« Noa nimmt den Stift und malt ein Herz dazu.