Geiseln

Liri Albag spricht erstmals über die »Hölle« von Gaza

Liri Albag mit ihren Eltern Foto: IDF-Spokesperson

Mehr als 15 Monate hat Liri Albag als Geisel der Hamas furchtbares Grauen durchleben müssen, bevor sie am 25. Januar im Rahmen des Geiseldeals freigelassen wurde. Nun hat Albag in einem ersten Interview über die »Hölle« von Gaza gesprochen.

»Die Wahrheit ist, dass sich der 7. Oktober wie ein langer Albtraum anfühlt und ich habe darauf gewartet, dass mich jemand aufweckt und mir sagt, dass ich geträumt habe. Aber das ist nicht passiert«, erzählte sie dem TV-Sender Kanal 12 in dem einstündigen Gespräch, das am Freitag ausgestrahlt wurde.

Liri Albag diente als Späherin im Stützpunkt Nahal Oz als die Massaker vom 7. Oktober begannen. Der Außenposten an der Grenze zum Gazastreifen war eines der ersten Ziele der Hamas. Albag hatte erst zwei Tage zuvor ihre Ausbildung abgeschlossen und hatte noch kein Gewehr bekommen. Sie musste machtlos zusehen, wie die Terroristen in der Militärbasis mordeten.

Liri Albag hat versucht, mit den Terroristen auf Englisch zu sprechenFoto: Screenshot

Albag kann sich noch genau daran erinnern, als sie das erste Mal ihren Entführern gegenüberstand: »Du siehst das Böse und den Hass in ihren Augen.« Später veröffentlichte Aufnahmen von Bodycams der Hamas-Terroristen zeigen die damals gerade erst 18-Jährige und ihre völlig verängstigten Kameradinnen. »Ich war mir in dem Moment, als wir dort gefesselt standen, sicher, dass sie uns abschlachten würden, uns eine nach der anderen erschießen würden«, schildert sie im Interview. »Ich bin in den Überlebensmodus gegangen und gesagt: ›Okay, was kann ich tun, um hier lebend rauszukommen?‹ «

Die Aufnahmen zeigen, wie Liri Albag versucht, mit den Terroristen zu sprechen. »Sie sagten uns: ›Wenn ihr auf uns hört, werden wir euch nicht töten. Ihr kommt mit uns nach Gaza‹, und wir sagten ihnen ›Ja, bringt uns nach Gaza‹, weil wir einfach Angst hatten«, schildert sie. »Ich glaube, es war total instinktiv.«

Während die Hamas 15 Soldaten in Nahal Oz ermordete, nahmen sie Karina Ariev, Daniella Gilboa, Naama Levy, Agam Berger, Ori Megidish und Noa Marciano als Geiseln.

»Ich hab es immer noch nicht geschafft, den ›Schmutz‹ von Gaza aus mir herauszuwaschen«

Die Szenen ihrer Ankunft im Gazastreifen klingen wie ein zynisches Volksfest. »Wir haben die Massen von Gaza gesehen, die uns umringt haben, geklatscht, gepfiffen und getanzt haben«, sagt Liri Albag. »Die Menschen in Gaza rannten hinter uns her, waren fröhlich und schossen in die Luft. Kinder, Frauen, Alte.« Diese Erfahrung habe sie zu dem Schluss gebracht, dass es im Gazastreifen keine »unschuldigen Zuschauer« gebe.

Liri Albag beschreibt ihre Zeit als Geisel im Gazastreifen als »echte Hölle«. Die Geiselnmehmer hätten sie und andere Geiseln gezwungen, die Videos der Massaker vom 7. Oktober zu sehen, darunter auch die Szenen ihrer eigenen Entführung.

Ihre Haftbedingungen ähneln denen der anderen Geiseln: »Manchmal durften wir nur zweimal am Tag zur Toilette, am Morgen und am Abend. Es gibt dort keine Hygiene. Ich hab es immer noch nicht geschafft, den ›Schmutz‹ von Gaza aus mir herauszuwaschen«, erzählt Albag.

Zu Essen habe es hauptsächlich Pita-Brot, Reis und - wenn vorhanden - Nudeln gegeben. »Wenn die humanitäre Hilfe nicht reingelassen wurde, war das spürbar. Es war wirklich spürbar, weil es plötzliche Tage mit nur einem Pita-Brot gab, dann nur noch ein Viertel Pita-Brot. Es gab Tage, an denen wir über Essen redeten, um den Hunger zu überwinden. Es gab Tage, an denen wir Salzwasser getrunken haben, weil es kein Wasser gab. Ich hab dort zehn Kilo verloren.«

»Ich wusste, dass sie uns mehr brauchen als wir denken«

Liri Albag musste so tun, als würde sie sich mit ihren Geiselnehmern gut verstehen. Sie sei verbaler, körperlicher und emotionaler Gewalt ausgesetzt gewesen, wusste sich aber auch zur Wehr zu setzen: »Ich habe von Anfang an gewusst, dass sie uns mehr brauchen als wir denken.«

Ihre Entführer seien darauf angewiesen gewesen, dass Albag und die anderen Geiseln den Vorgesetzten der Terroristen bestätigen, dass es ihnen gut gehe. »Also haben wir damit gespielt: ›Du benimmst dich mir gegenüber so? Okay, hol deinen Vorgesetzten, ich will mit ihm reden.« Indem sie dieses Machtgefüge ausnutzte, sei es ihr gelungen, den Geiselnehmern Grenzen zu setzen. So hätten diese etwa den Raum nicht betreten, während Albag schlief.

Bei jeder Unterhaltung mit den Geiselnehmern sei deren Hass spürbar gewesen, schildert Liri Albag. »Sie glauben, dass wir eine Terrororganisation sind - genau so wie wir es von ihnen denken. Sie halten uns für Terroristen, Mörder, Diebe und Lügner. Wir haben uns mit ihnen über den Holocaust unterhalten. Sie leugnen ihn und glauben, dass Hitler ein Genie gewesen sei, dass Hitler das nicht getan habe und eigentlich in Ordnung sei.«

»Wir haben versucht, bei Verstand zu bleiben«

In dem Interview spricht Liri Albag auch über ihre Beziehungen zu anderen Geiseln. Keith und Aviva Siegel, die auch beide freigelassen wurden, seien wie Eltern für sie gewesen. Nachdem sie von den Siegels getrennt wurde, habe sie die Gefangenschaft mit jungen Kindern verbracht, die aber während des ersten Deals im November 2023 freigelassen wurden.

Liri Albag selbst, hätte auch im Rahmen des ersten Geiseldeals freikommen sollen, wie ihre Geiselnehmer ihr gegenüber behaupteten. Doch eines Morgens sei sie durch das Geräusch von Explosionen aufgewacht. Da sei ihr klar geworden, dass sie als Soldatin noch sehr lange Zeit in der Gewalt der Hamas verbringen würde.

Dennoch versuchte sie über die freigelassenen Geiseln ihrer Familie Nachrichten zu überbringen: »Sie sollten meiner Schwester sagen, dass sie meine Schuhe nicht anfassen soll. So wusste sie, dass ich noch ich selbst geblieben bin.«

Untereinander hätten die Geiseln versucht, sich gegenseitig zu unterstützen und die Moral aufrechtzuerhalten. Ihre Entführer hätten Liri Albag ein Siddur geschenkt, aus dem die Geiseln lasen und damit versuchten, jüdische Feiertage einzuhalten. Die Gefangenen hätten außerdem gesungen, Geburtstage gefeiert und Tagebücher geführt. »Wir haben versucht, bei Verstand zu bleiben«, so Liri Albag.

Doch die Diskussionen über einen Geisel-Deal in Israel, die Albag und die anderen über ein Radio mithörten, drückten die Stimmung. »Es war sehr schwer für uns, uns vorzustellen, dass es Leute gibt, die wirklich bereit sind, uns zu opfern«, erzählt sie im Interview. »Warum? Was hab ich getan? Bin ich dafür verantwortlich, entführt worden zu sein?«

»Wenn sie eine der Geiseln verletzen, verletzen sie auch mich«

In Bezug auf Berichte, dass Liri Albag Amit Soussana das Leben gerettet hat, weil sie die Hamas davon überzeugen konnte, dass Soussana keine Soldatin gewesen sei, sagt sie nur: »Ich hab getan, was ich getan hab, um diejenigen um mich herum zu retten. Ich dachte mir, wenn sie einen der Israelis, eine der Geiseln verletzen, verletzen sie auch mich und das konnte ich nicht mit ansehen.«

Liri Albag setzte sich bei den Hamas-Terroristen auch dafür ein, dass ihre Freundin Agam Berger, mit der sie fast die gesamte Zeit in Gefangenschaft verbracht hatte, zusammen mit ihr freigelassen wird. Sie habe ihren Geiselnehmern gesagt, dass sie nicht gehen wolle, solange Agam Berger zurückbleiben muss, doch die Terroristen hätten sie ausgetrickst.

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Am 25. Januar wurde Liri Albag zusammen mit Karina Ariev, Daniella Gilboa und Naama Levy freigelassen. Agam Berger konnte eine Woche später zusammen mit Arbel Yehud und Gadi Moses nach Israel zurückkehren.

Während Ori Megidish schon am 30. Oktober von der israelischen Armee aus der Gefangenschaft gerettet wurde, gab es vor Noa Marciano keine Hoffnung mehr. Sie wurde in Gefangenschaft ermordet, ihr Leichnam erst später entdeckt.

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