Am Unabhängigkeitstag zieht gewöhnlich der Grillrauch durch die Straßen, wabert durch Parks, weht von Balkonen und Dachterrassen. Das ganze Land hat frei, blauweiße Fähnchen wehen von Autodächern und Straßenlaternen, und in Jerusalem versammelt sich Prominenz aus Politik, Militär und Gesellschaft zur offiziellen Zeremonie. So war es jedenfalls in Vor-Corona-Zeiten.
Der diesjährige Jom Haazmaut, der am Abend des 28. April beginnt und am Abend darauf endet, wird ganz anders aussehen: Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, hat die Regierung schon vor Wochen strenge Ausgangssperren und Kontaktverbote beschlossen, die die üblichen Feierlichkeiten unmöglich machen.
Maximal 100 Meter dürfen sich die Bürger von der eigenen Wohnung oder dem eigenen Haus entfernen, für sportliche Aktivitäten sind 500 Meter erlaubt. Physisch nähern dürfen sie sich nur Menschen, die im selben Haushalt leben. Größere Familientreffen oder Versammlungen mit Freunden bleiben bis auf Weiteres verboten.
FLUGSCHAU Schon zum Pessachfest Mitte April wurden die Menschen in ihre eigenen vier Wände verbannt; zum Sederabend trat eine landesweite Ausgangssperre in Kraft, die es den Menschen verbot, die eigene Stadt zu verlassen. Familien und Freunden blieb nichts anderes übrig, als sich über Programme wie Zoom und Skype zu verbinden, um zumindest virtuell gemeinsam zu feiern. Und obwohl die Regierung kurz nach Pessach erste leichte Lockerungen beschloss, bleiben die Kontaktverbote in Kraft.
Für den Jom Haazmaut soll sogar eine verschärfte Ausgangssperre geplant sein.
Die Grillfeiern auf Tel Avivs Dachterrassen werden in diesem Jahr deshalb ebenso ausfallen wie Zeremonien vor Publikum. Auch die traditionelle Flugschau der israelischen Luftwaffe hat die Regierung abgesagt, um zu vermeiden, dass sich die Menschen dafür im Freien versammeln. Stattdessen sollen lediglich vier Flugzeuge über Krankenhäuser im ganzen Land fliegen, um die Ärzte und Krankenpfleger zu ehren, die den Kampf gegen das Virus an vorderster Front führen.
Laut israelischen Medienberichten erwägt die Regierung für den Jom Haazmaut sogar eine verschärfte Ausgangssperre ähnlich wie am Sederabend, um Menschenansammlungen zu verhindern. Als Ersatz bieten verschiedene zionistische Organisationen in Israel und den USA virtuelle Zeremonien an, die live im Internet übertragen werden.
ÜBERLEBENDE Auch den Jom Haschoa zum Gedenken der Opfer des Holocaust, der am Abend des 20. April begann, mussten Israelis in diesem Jahr zu Hause begehen. Die Non-Profit-Organisation »Adopt a Safta«, die junge Ehrenamtliche mit einsamen Holocaust-Überlebenden zusammenbringt, organisierte eine virtuelle Zeremonie, live übertragen auf Facebook. Der Auschwitz-Überlebende Irwing Roth, Direktor des Holocaust Resource Center in Manhasset, New York, erzählte dabei seine persönliche Geschichte, andere Teilnehmer lasen Erlebnisberichte inzwischen Verstorbener vor.
Andere Aktivitäten mussten ausfallen, darunter die Tradition des »Sikaron BaSalon«, in der Bürger sich in den Wohnzimmern oft fremder Menschen versammeln, um Holocaust-Überlebende zu treffen. Manche Überlebende sprachen stattdessen über Zoom über ihre Erfahrungen. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übertrug eine stark beschränkte, im Vorfeld aufgezeichnete Zeremonie auf ihrer Webseite.
GEFALLENE Auch die Zeremonien anlässlich des Jom Hasikaron, der am Montagabend beginnt und an dem Israel seiner gefallenen Soldaten und Terroropfer gedenkt, werden in diesem Jahr stark eingeschränkt. Laut Medienberichten ist eine kleine Zeremonie in Jerusalem geplant, an der allerdings weder Staatspräsident Reuven Rivlin noch Premierminister Benjamin Netanjahu teilnehmen sollen. Besuche auf Friedhöfen, die für viele Angehörige von Gefallenen an diesem Tag zur jährlichen Tradition gehören, werden voraussichtlich verboten.
Die weitreichenden Maßnahmen, die die Regierung zur Eindämmung des Coronavirus beschlossen hat, lasten schwer auf Israels Wirtschaft: Die Arbeitslosigkeit ist auf ein historisches Hoch von 26 Prozent geklettert, viele Inhaber kleiner oder mittelständischer Unternehmen sind von der Pleite bedroht.
Auch Hersteller von Dekorationsmaterial für den Jom Haazmaut leiden unter der Lage: Wie die »Jerusalem Post« berichtete, sind die Verkäufe eines großen Produzenten von Israel-Fahnen im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent eingebrochen. Noch stärker leiden Hotels, Restaurants und Bars, die sich in dieser Saison sonst zuverlässig füllen: In diesem Jahr müssen sie geschlossen bleiben.
GESICHTSMASKEN Manche Firmen erweisen sich jedoch als erfinderisch: Ein amerikanischer Hersteller vertreibt anlässlich des bevorstehenden Unabhängigkeitstags Gesichtsmasken, die mit der israelischen Flagge bedruckt sind. In Israel muss derzeit jeder, der sein Haus verlässt, eine Maske tragen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren.
Obwohl bei Verletzung dieser Richtlinie eine Geldstrafe von 200 Schekel, umgerechnet rund 50 Euro, droht, halten sich viele Israelis bisher nicht daran – doch vielleicht ändert sich das, wenn die Israel-Masken rechtzeitig zum Jom Haazmaut geliefert werden.