Interview

»Israel ist gerade dabei, die Hamas zu besiegen«

Der renommierte Journalist Ron Ben-Yishai über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation, Zweifel und die Zeit danach

von Michael Thaidigsmann  19.06.2024 15:30 Uhr

Ist einer der führenden Militär- und Außenpolitikexperten unter Israels Journalisten: Ron Ben-Yishai Foto: Flash90

Der renommierte Journalist Ron Ben-Yishai über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation, Zweifel und die Zeit danach

von Michael Thaidigsmann  19.06.2024 15:30 Uhr

Herr Ben-Yishai, Sie haben bereits über viele Kriege berichtet. Wie würden Sie den aktuellen Krieg Israels gegen die Hamas einstufen?
Wir haben es hier nicht mit einem »normalen« Krieg zu tun, bei dem die Armeen von zwei Staaten gegeneinander kämpfen. Im Englischen würde eher man stattdessen von »Counter Insurgency« sprechen, also der Niederschlagung eines Angriffs von Freischärlern. Die Hamas ist einerseits eine Terrororganisation. Sie verfügt andererseits nicht nur über ein großes Waffenarsenal, sondern auch über Erfahrung in der Guerilla-Kriegsführung. Sie zu besiegen ist deshalb so schwer, weil sie sich absichtlich hinter der Zivilbevölkerung versteckt, ja, Zivilisten zum wichtigsten Werkzeug ihrer Kriegsführung macht.

Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn sich Hamas-Kämpfer auf der Straße von A nach B bewegen, tun sie dies in der Regel unbewaffnet. Sie sehen aus wie jeder andere Zivilist auch. In vielen Wohnhäusern und Apartments, ja sogar unter Krankenhäusern, haben sie aber Zugriff auf dort gelagerte Waffen. Für israelische Soldaten ist es deshalb sehr schwer, einen Hamas-Mann von einem Zivilisten zu unterscheiden.

Kann Israel den Krieg unter solchen Voraussetzungen überhaupt gewinnen?
Eindeutig ja, das haben die letzten Wochen trotz allem gezeigt. Israel ist gerade dabei, die Hamas zu besiegen. US-Präsident Joe Biden hat es jüngst ja selbst gesagt: Die Hamas ist aktuell nicht mehr in der Lage, einen groß angelegten Angriff wie am 7. Oktober 2023 zu verüben. Sie ist empfindlich getroffen. Damals hatte der militärische Arm der Hamas, die Al-Kassam-Brigaden, mehr als 30.000 Mann unter Waffen. Mehr als die Hälfte sind seitdem von Israel getötet worden, und die israelische Luftwaffe, eine der besten weltweit, hat viele Hamas-Einrichtungen am Boden zerstört. Israel hat dem Feind schweren Schaden zugefügt.

Kann man die Hamas komplett zerstören? Viele haben daran Zweifel.
Nein, aber es reicht, wenn man sie zu 80 Prozent kampfunfähig macht, ihre Anführer und die meisten Kombattanten ausschaltet und den Großteil ihrer militärischen Infrastruktur zerstört. Das ist das Ziel der IDF, und bevor das erreicht ist, sehe ich nicht, dass Israel die Kampfhandlungen einstellen wird.

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Braucht es dafür eine Offensive in Rafah?
Ja. Die verbliebenen Hamas-Bataillone befinden nun einmal in Rafah. Wenn die Welt nicht will, dass sich diese Organisation irgendwann wieder so weit regeneriert, dass sie erneut zuschlagen kann, und wenn man ihr nicht eine Enklave im Gazastreifen unmittelbar an der Grenze zu Ägypten überlassen möchte, dann muss man Israel die Aufgabe zu Ende bringen lassen.

Wird der Krieg bald zu Ende sein?
Er wird sicher noch einige Wochen, wenn nicht Monate dauern. Das Hauptproblem ist das riesige Tunnelsystem, das die Hamas im gesamten Gazastreifen aufgebaut hat. Es ist mehrere Hundert Kilometer lang und das wichtigste militärische Asset der Hamas. Das alles zu zerstören, braucht viel Zeit. Immer noch können sich Hamas-Leute in den Tunneln verstecken und bewegen. Immer noch werden so Waren und Waffen aus dem Sinai in Ägypten nach Gaza gebracht. Immer noch werden dort viele israelische Geiseln festgehalten. Und der Gazastreifen ist nicht nur voller unterirdischer Tunnel. Er ist auch voller Waffen.

Viele fragen sich: Wie kann es sein, dass die Hamas und andere Terrorgruppen an so viele Waffen kommen?
In der Vergangenheit wurden schwere Waffen, vor allem aus dem Iran, durch die Tunnel nach Gaza eingeführt. Mittlerweile produziert die Hamas ihre Raketen vorwiegend innerhalb des Gazastreifens, teilweise in unterirdischen Fabriken, die mit dem Tunnelsystem verbunden sind. Ich war in den letzten Monaten mehrfach mit der IDF in Gaza und konnte das mit eigenen Augen sehen. Diese Waffenschmieden haben vielleicht nicht die Ausmaße einer Mercedes-Autofabrik in Deutschland, aber sie sind riesig im Vergleich zu dem, was es dort vor zehn oder zwanzig Jahren gab.

Könnte man die Grenze zu Ägypten nicht besser kontrollieren?
Das ist nicht so einfach, wie viele denken. Da gibt es auch die Interessen der Ägypter zu bedenken. Immerhin hat die israelische Armee jetzt die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor erlangt, das Grenzgebiet des Gazastreifens zu Ägypten. Dort befinden sich rund 50 Tunnel. Ihre Zerstörung wird aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Wie kann es sein, dass die Hamas immer noch so viele Geschosse auf israelisches Gebiet abfeuern kann?
Das liegt auch daran, dass sie ihre Abschussrampen unter der Erde versteckt und das Tunnelsystem noch teilweise funktioniert. Israel konnte bisher nur einen kleinen Teil davon zerstören – auch, weil eine Sprengung der Tunnelanlagen die Stabilität der Wohnhäuser oben drüber beeinträchtigen würde.

In den Tunneln werden vermutlich auch viele der israelischen Geiseln festgehalten. Hat Israels Kriegsführung sie nicht in Wahrheit preisgegeben?
Nein. Am Anfang, unmittelbar nach dem 7. Oktober, war es vorrangig, die Hamas so hart zu treffen, dass sie nicht noch einmal so zuschlagen würde. Aber seitdem – und das sage ich als jemand, der ein scharfer Kritiker dieser Regierung und des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist – hat die Geiselbefreiung oberste Priorität.

Mitglied der Terrororganisation Palästinensischer Islamischer Dschihad in einem Tunnel in Gaza (2022)Foto: Copyright (c) Flash 90 2021

Gegen Israel wird manchmal der Vorwurf erhoben, es führe Krieg gegen die Menschen in Gaza, bestrafe sie kollektiv für die Verfehlungen der Hamas. Was sagen Sie dazu?
Das ist falsch. Die Menschen im Gazastreifen haben zwei Probleme. Eines ist, dass sehr viele wirklich die Hamas unterstützen und wollen, dass die Hamas Erfolg hat, indem sie Israelis belästigt oder umbringt. Und das, obwohl Israel schon 2005 den Gazastreifen verlassen und ihnen damit Gaza überlassen hat. Die Hamas hat aus dem Gebiet eine riesige Militärbasis gemacht, von der aus Israel zerstört werden soll.

Nun hat der Internationale Gerichtshof Israel einige Auflagen gemacht. Wie sollte damit umgegangen werden?
Die Anordnungen des IGH sind zwar für Israel etwas unangenehm, aber unter den obwaltenden Umständen sind sie gar nicht so einseitig, wie man das befürchten konnte. Ich denke, Israel sollte weiterhin versuchen, die Richter zu überzeugen und ihnen zu signalisieren: Wir tun, was ihr von uns verlangt. Ihr wolltet humanitäre Hilfe – wir haben sie aufgestockt. Ihr wolltet, dass wir die Landübergänge zum Gazastreifen öffnen – wir haben es getan. Wir sollten deutlich machen, dass wir den Gerichtshof respektieren. Aber wir müssen den Krieg zumindest so lange fortsetzen, bis die Hamas die Geiseln freigibt.

Wie kann eine friedliche Ordnung in Gaza nach diesem Krieg aussehen?
Eines ist klar: Es braucht dort eine alternative Regierung zur Hamas. Die ist leider im Moment noch nicht erkennbar – auch, weil die Netanjahu-Regierung aus politischen Gründen nicht das tut, was sie tun müsste. Sie hat es nicht zugelassen, dass die israelische Armee und das Verteidigungsministerium eine alternative Regierung für den Gazastreifen einsetzen.

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Warum nicht?
Weil sie nicht will, dass der Gazastreifen eines Tages Teil eines palästinensischen Staates wird oder die Palästinensische Autonomiebehörde an der Regierung dort beteiligt wird.

Gibt es dennoch eine realistische Chance auf eine Zweistaatenlösung?
Ich denke, ja. Nur ist es nach dem 7. Oktober ein noch längerer Weg zu ihrer Umsetzung als zuvor schon. Denn Israel hat zu Recht ein Problem damit, einen palästinensischen Staat mit der Hamas im Gazastreifen und einer unfähigen Regierung unter Mahmud Abbas im Westjordanland zu akzeptieren. Wir brauchen jetzt schnell eine neue Führung bei den Palästinensern und auch eine neue Regierung in Israel, um die Zweistaatenlösung doch noch zu erreichen.

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Israel wird international mittlerweile noch stärker kritisiert als vor dem 7. Oktober. Kam das für Sie überraschend?
Ehrlich gesagt, schon ein bisschen. Als israelischer Journalist, der lange Zeit im Ausland gelebt hat, war ich es natürlich schon gewohnt, dass mein Land ständig für alles Mögliche kritisiert wurde. Aber mittlerweile ist es schlimmer denn je zuvor. Die Welt versteht nicht, dass all die Zerstörungen, die man jetzt in Gaza sieht, all die Opfer, die logische Konsequenz des Vorgehens der Hamas sind, die mitten aus der Bevölkerung von Gaza heraus Israel angreift. Die Hamas will, dass möglichst viele Palästinenser sterben, um Israel die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Und dass diese Taktik aufgeht, ist verstörend.

Michael Thaidigsmann mit Ron Ben-Yishai
Michael Thaidigsmann mit Ron Ben-YishaiFoto: Yossi Lempkowicz

Ron Ben-Yishai (80) ist seit mehr als fünf Jahrzehnten ein israelischer Kriegsreporter. In den 70er-Jahren war er Auslandskorrespondent für den Israelischen Rundfunk (IBA) Korrespondent in Bonn und später zweimal Washington-Korrespondent für die Tageszeitung »Yediot Ahronot«. Während des Libanonkriegs 1982 war Ben-Yishai der erste Journalist, der über das Massaker von Sabra und Schatila berichtete. Im Jahr 2018 wurde er mit dem Israel-Preis ausgezeichnet. Mit Ron Ben-Yishai sprach JA-Redakteur Michael Thaidigsmann in Brüssel.

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