Interview

»Irans Ziel scheint es zu sein, diesen Krieg so lange wie möglich zu führen«

Sarit Zehavi, Gründerin von Alma Foto: Alma

Interview

»Irans Ziel scheint es zu sein, diesen Krieg so lange wie möglich zu führen«

Sarit Zehavi, Gründerin des Think Tanks Alma, über Irans Raketenarsenal, die Reaktion des Mullah-Regimes auf die israelischen Angriffe und seine Möglichkeit, einen Abnutzungskrieg zu führen

von Nils Kottmann  20.06.2025 12:38 Uhr

Frau Zehavi, der Iran sollte eines der fortschrittlichsten Raketenprogramme im Nahen Osten haben. Wie viel davon ist nach einer Woche israelischer Angriffe noch übrig?
Laut Berichten in israelischen Medien sollte der Iran vor der aktuellen Offensive etwa 3000 Raketen besitzen. Offiziellen Angaben zufolge wurde die Hälfte dieses Arsenals zerstört, einschließlich der Hälfte der Abschussrampen.

Wie schwer ist es, die iranische Raketenindustrie zu zerstören?
Wir haben einen ausführlichen Bericht über die Raketenindustrie im Iran verfasst. Sie besteht aus Dutzenden, möglicherweise Hunderten von Entwicklungs-, Produktions- und Montageeinrichtungen im ganzen Land. Viele davon sind unterirdisch, einige befinden sich sogar direkt in Teheran. Deshalb ist es schwierig, das gesamte System auszuschalten. Die gesamte Industrie ist unter dem Dach der »Aerospace Industries Organization« organisiert, die dem Verteidigungsministerium untersteht. Der Iran hat in den letzten Jahren intensiv daran gearbeitet, die Reichweite, Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Sprengkraft seiner Raketen zu verbessern. Ein Teil dieses Know-hows wurde an Irans Verbündete im Nahen Osten weitergegeben, aber die hochwertigen Raketen sind in iranischer Hand geblieben. Der Unterschied zwischen dem, was von den Huthis im Jemen kommt, und dem, was der Iran selbst abschießt, ist deutlich zu erkennen.

Am ersten Wochenende feuerte der Iran über 200 Raketen auf zivile, aber auch militärische Ziele. Jetzt werden weniger Raketen abgefeuert – aber scheinbar vor allem auf zivile Ziele wie das Soroka-Klinikum in Be’er Scheva. Was will der Iran damit erreichen?
Wir beobachten tatsächlich einen Rückgang in der Anzahl der Raketen mit jeder Angriffswelle. Wir sind an dem Punkt angelangt, dass der Angriff am Donnerstagmorgen wie eine Ausnahme erschien. Das zeigt, dass der Iran seine Vorräte einteilen muss und genau überlegt, wie viele Raketen er wohin schießt. Es sieht so aus, als ob sie sowohl zivile als auch militärische, beziehungsweise sicherheitsrelevante Ziele ins Visier nehmen. Es scheint, als wolle der Iran uns zermürben. Ihr Ziel scheint zu sein, diesen Krieg so lange wie möglich zu führen. Unser Ziel ist es dagegen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Deshalb sind die Aussagen unserer Führung so entschieden: Wir werden das nicht hinnehmen. Denn klar ist: Unser Leben hier ist stark eingeschränkt – keine geöffneten Schulen oder Geschäfte, das wirtschaftliche Leben kommt zum Erliegen, es gibt keine Flüge. Stattdessen versuchen wir, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben. Das kann nicht ewig so weitergehen. Wir brauchen eine entschlossene Offensive, um das Ganze zu beenden – auf die eine oder andere Weise. Ich muss aber sagen: Die bisherigen Erfolge sind bereits gewaltig. Aber der eigentliche Wendepunkt wäre entweder der Sturz der Regierung in Teheran oder das Ende des Atomprogramms – durch Diplomatie oder militärische Mittel. Leider – und ich hoffe, ich irre mich – sieht es nicht so aus, als ob die iranische Führung an einer diplomatischen Lösung interessiert ist. Für sie ist es eine Frage der Ehre, das Atomprogramm nicht aufzugeben.

Wenn die Hälfte der Abschussrampen zerstört wurde und Iran laut Schätzungen von Sicherheitsexperten 50 Raketen pro Monat produziert: Kann das Regime in Teheran überhaupt einen Abnutzungskrieg führen?
Ich weiß nicht genau, wie viele Raketen sie produzieren. Selbst wenn die Zahl stimmt, bleibt unklar, ob sie weiterhin im selben Tempo wie vor dem Krieg produzieren können. Ich weiß nicht, wie lange sie einen Abnutzungskrieg führen könnten, aus zwei Gründen: Wir wissen nicht, wie viele Raketen sie tatsächlich haben. Und zweitens – wir wissen nicht, ob es ihnen gelingt, neue Raketen etwa aus Russland zu bekommen. Nehmen wir an, sie haben noch ein paar Hundert übrig und schießen jeden Tag zwei oder drei – dann könnten sie noch zwei bis drei Monate weitermachen.

Ist ein Regimewechsel also wahrscheinlicher als ein Atomabkommen?
Das hängt wohl von Trump ab. Die Entscheidung liegt in Washington. Wenn Trump beschließt, sich einzumischen und mit bunkerbrechenden Bomben die Atomanlagen zu zerstören – was wir selbst nicht können – könnte dies den Krieg verkürzen. Ich versuche, in meinen Analysen keine Vorhersagen zu treffen, sondern Szenarien aufzuzeigen. Meine Theorie – oder vielleicht Hoffnung – ist, dass der Ayatollah sich verkalkuliert und weiter eine diplomatische Lösung verweigert, ohne zu begreifen, wie gefährlich diese Haltung für das Überleben des Regimes ist. Und dann wird es stürzen. Es gibt aber kaum Informationen darüber, was aktuell im Iran passiert – zur öffentlichen Meinung, zu Protesten oder Unruhen– denn das Internet ist abgeschaltet.

Welche Signale senden die Angriffe auf den Iran an seine Stellvertreter in der Region?
Vor dieser Offensive wurde in Israel diskutiert, ob die Armee wirklich in der Lage ist, bis zu 20 Atomanlagen anzugreifen. Im Gegensatz zu früheren israelischen Luftschlägen auf Nuklearanlagen – in Syrien oder im Irak – stehen wir hier vielen Anlagen an verschiedenen Orten gegenüber, in einem viel weiter entfernten Land. Doch am Freitag, den 13. Juni, flogen 200 Jets gleichzeitig und griffen innerhalb von 24 Stunden 150 Ziele an. Das ist unglaublich. Ein Land mit neun Millionen Einwohnern hat es geschafft, ein bösartiges Regime in einem Land mit 90 Millionen Einwohnern ins Wanken zu bringen. Beeindruckend ist auch, dass nicht nur Jets gleichzeitig in der Luft waren – das Regime wurde zusätzlich vom Boden aus durch Mossad-Agenten, gezielte Tötungen und Drohnenangriffe auf spezifische Ziele angegriffen. Wir haben die iranische Führung überwältigt. Und die Tatsache, dass wir praktisch die gesamte militärische Führung des Iran – Leute mit langjähriger Erfahrung – ausgeschaltet haben, hat zur Schwächung des Regimes erheblich beigetragen.

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Welche Szenarien sind jetzt wahrscheinlich?
Ich sehe drei mögliche Szenarien: Erstens, da Israel an einem kurzen Krieg interessiert ist, könnten die USA sich anschließen und die unterirdischen Nuklearanlagen – vor allem jene in 80 Metern Tiefe – zerstören. Dann könnte man sagen: Unsere Ziele sind erreicht.
Zweitens: Eine diplomatische Lösung. Das würde bedeuten, dass der Iran den amerikanischen und israelischen Forderungen nach vollständiger Demontage des Atomprogramms zustimmt. Drittens: Ein Regimewechsel im Iran. Ich denke, die israelische Regierung hofft, dass dies durch einen Dominoeffekt geschieht – wie im Dezember in Syrien. Aber wie gesagt: Wir haben keinerlei Informationen über die Lage im Inneren. Wir wissen nicht, ob Trump eingreifen wird. Und ich bin nicht sicher, ob die iranische Führung zu einer diplomatischen Lösung bereit ist. Deshalb sehen wir wohl zunehmend Bemühungen, die Stabilität des Regimes zu untergraben – um entweder eine diplomatische Lösung zu erzwingen oder dem iranischen Volk den Aufstand zu ermöglichen. Aber vielleicht gibt es auch eine vierte Option, die bisher niemand in Betracht gezogen hat.

Mit der Leiterin und Gründerin der zur Nahost-Geopolitik forschenden NGO Alma sprach Nils Kottmann.

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