Jerusalem

Heiliger Ort

Das umstrittene Heiligtum schließt bereits um elf Uhr vormittags. Die Besuchszeiten für Nichtmuslime sind streng, und so haben es Or und Elyashiv gerade noch geschafft, den Tempelberg zu betreten. Kurz darauf scheuchen die Aufseher der palästinensischen Waqf die letzten Besucher zum Ausgang. »Time is over«, rufen sie über den Platz. Ein paar Touristen trotten zum Ausgang, auch eine Gruppe jüdischer Besucher. Dann verschließen die Männer der Waqf die Tore, bis um 13.30 Uhr die zweite Besuchszeit beginnt.

Wenige Minuten später stehen Or und Elyashiv wieder auf der Plaza vor der Kotel, wo an Chol Hamoed Sukkot Tausende jüdische Besucher beten. Elyashiv trägt Kippa und Zizit und hält einen Lulav in der Hand, wie ihn viele Männer in diesen Tagen durch Jerusalem tragen. »Wir kommen, so oft wir können, hierher«, sagt der 24-Jährige. Alle paar Wochen, wenn es der Terminkalender zulässt. Und auch heute sind sie aus Sderot angereist, um an der Kotel zu beten und den Tempelberg zu besuchen.

polizeischutz Über die hölzerne Mughrabi-Brücke, die südlich des Gebetsplatzes auf den Berg führt, sind sie mit anderen nichtmuslimischen Besuchern hinaufgelaufen und haben dort eine kurze Runde gedreht – begleitet von israelischen Sicherheitskräften. Denn weil die beiden Kippa und Zizit tragen, dürfen sie nicht unbeaufsichtigt auf den Berg. Die Polizei schützt die klar zu erkennenden jüdischen Besucher nicht nur vor Angriffen, sie achtet auch darauf, dass die Gläubigen dort nicht beten. Denn das erlaubt die Waqf auf dem Tempelberg nur Muslimen. »Wir haben hier keine Freiheit.« Elyashiv ärgert sich. Für ihn als Jude ist dieser Ort heilig, der Berg und auch die Kotel.

Dass der Glaube Elyashiv und andere religiöse Juden dazu treibt, den Tempelberg, der heute unter muslimischer Aufsicht steht, zu besuchen, ist religiös und politisch umstritten: religiös, weil selbst einige Rabbiner es verbieten. Schließlich könnte man aus Versehen den Ort betreten, wo sich zur Zeit des Zweiten Tempels das Allerheiligste befand, der Ort, den nur Hohepriester an Jom Kippur betreten durften.

Politisch, weil es die angespannte Stimmung weiter anheizt, wenn religiöse Gruppen unter Polizeischutz auf den Berg marschieren, versuchen, dort gegen die Regeln zu beten, und am Ausgang beginnen, laut zu singen und zu jubeln. Viele Muslime sehen es als Provokation und als Kampfansage. Sie haben Angst, dass man ihnen diesen Berg streitig machen möchte – und manch radikalen Gruppen wie dem »Temple Institute« schwebt auch genau das vor: Sie würden auf dem Berg gerne wieder ein jüdisches Heiligtum errichten, den Dritten Tempel.

Doch die jüdische Geschichte dieses Ortes und seine Bedeutung für Juden lassen sich nur schwer bestreiten. Und so empören sich diesmal nicht nur religiöse wie auch rechte Politiker und Aktivisten über die jüngste Resolution der UNESCO, sondern auch Israels Linke und Säkulare. In der Resolution wird der Ort nur bei seinem muslimischen Namen »Al-Haram-Al-Sharif« genannt. Und selbst der Platz vor der Klagemauer heißt in dem Dokument »Al-Burak-Platz«. Die UNESCO ignoriert damit die jüdische Geschichte und die Bedeutung des Ortes für Juden.

ausstellung Dabei sind die archäologischen Funde eindeutig: Nur wenige Hundert Meter weiter südlich des Tempelberges finden sich die Informationen und Artefakte, die sowohl die jüdische als auch die muslimische Geschichte des Berges belegen – in der archäologischen Ausstellung des Davidson Center. Münzen sind da zu sehen, die aus der Zeit des Zweiten Tempels bis 70 nach der Zeitrechnung stammen, und der Deckel eines Grabes des Sohns eines Hohepriesters, darauf hebräische Schriftzeichen. König Herodes, so erklärt die Ausstellung, hatte den Tempel umgebaut und das Plateau um einiges größer angelegt als zuvor: 280 Meter breit und 480 Meter lang.

Die Westmauer dieses Plateaus ist die heutige Klagemauer. Gleichzeitig erklärt die Ausstellung aber auch, wie die Araber im Jahr 638 Jerusalem eroberten und wie Kalif Umar anordnete, den Tempelberg von Schutt und Abfällen zu befreien, die in der Zeit des Byzantinischen Reiches dort abgelagert wurden, nachdem der Zweite Tempel Hunderte Jahre zuvor zerstört worden war. Später wurden an der Stelle dann die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom errichtet.

Von dort aus soll Mohammed zu seinem Nachtritt in den Himmel aufgestiegen sein. Und so ist der Berg auch für Muslime einer der wichtigsten und heiligsten Orte. Geschichtlich und religiös betrachtet also ein Ort, der für beide Religionsgruppen wichtig war und es bis heute ist. Und das macht den Berg zu einem umstrittenen Heiligtum.

Die UNESCO hat mit ihrer Resolution die Flammen des Konfliktes noch einmal neu entfacht. Nun will man zeigen, dass man sich von dieser Entscheidung nicht unterkriegen lässt: Israels Innenminister Aryeh Deri von der Schas-Partei rief auf seiner Facebook-Seite dazu auf, an Chol Hamoed an die Klagemauer zu kommen: »Wir senden eine klare Botschaft – niemand wird uns von unseren heiligen Orten trennen.«

Barmizwa Itamar Shein und David Shantall sind an die Kotel gekommen – allerdings nicht wegen der Feiertagswoche. Die beiden haben eine Barmizwa besucht, die der Sohn eines Bekannten dort vor wenigen Minuten gefeiert hat. »Es ist eine ekelhafte Entscheidung«, sagt Itamar, der aus London angereist ist, »sie haben die Geschichte nicht richtig gelesen.«

Für David, der seit zehn Jahren in Modiin lebt, ursprünglich aber aus Südafrika stammt, ist der Besuch der Barmizwa an der Klagemauer etwas ganz Besonderes. »Ich erinnere mich, wie ich meine Barmizwa damals in Johannesburg gefeiert habe. Damals hatten wir nicht geahnt, dass dann, drei Jahre später, der Staat Israel gegründet werden würde«, sagt der heute 84-Jährige.

Azriel und Naomi Zahari sind aus ihrem Moschaw nahe Netanya angereist – wie an jedem Chol Hamoed. »Wir haben uns hier in der Altstadt für eine Nacht ein Hotelzimmer genommen. Heute Morgen war ich schon in der Synagoge beten«, erzählt Azriel. Jetzt also machen die beiden noch einen kurzen Abstecher zur Klagemauer. Azriel trägt eine Kippa zu Jeans und Shirt, seine Frau Naomi das Haar offen. Gläubig sind sie, aber nicht orthodox.

Azriel drückt einer Touristin, die gerade vorbeikommt, sein Smartphone in die Hand: »Kannst du von uns ein Bild machen?« Azriel und Naomi positionieren sich, sie lächeln, hinter ihnen die Klagemauer mit Tausenden Besuchern. Und oben, ganz links auf dem Smartphone, scheint die goldene Kuppel des Felsendoms ins Bild. Ein symbolisches Bild für diesen Ort, der von so großer Bedeutung für so viele Menschen verschiedenen Glaubens ist.

Azriel blickt sich um und schaut hinauf. »Nein, da oben habe ich nichts verloren, ich gehe nicht auf den Tempelberg«, sagt er. Als Jude dort hinzugehen – das sei weder verboten noch wirklich erlaubt. Sein Ort des Gebets sei hier unten. »Aber die Geschichte lässt sich deswegen ja trotzdem nicht umschreiben.«

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