Tel Aviv

Glitzer und Nostalgie

Es ist der letzte seiner Art. Voller weißer Tauben, Ringelreih tanzenden Kindern, Blumengestecken und Glitzerschnörkeln. Wie damals, als man mit Israel Kibbuzim und frisch bestellte Felder verband. Der weiße Stand mit Grußkarten für das Neujahrsfest Rosch Haschana steht an einer der Hauptstraßen mitten in Tel Aviv – wie ein Bote aus längst vergangener Zeit.

Jedes Jahr im Spätsommer taucht er wieder auf, rechtzeitig einige Wochen vor den Feiertagen, damit die Leute ihre Postkarten für die Neujahrsgrüße kaufen und verschicken können. Aber macht das überhaupt noch jemand? »Oh ja, das tun die Leute allerdings.« Yaakov Misrachi muss es wissen. Er ist Eigentümer und Betreiber des Standes. Jede Saison verkauft er rund 30.000 Exemplare. Hundert verschiedene Motive zieren die Karten, die es in vier Größen gibt. Die kleinsten im Visitenkartenformat, mittelgroße, große und extra große. Die beiden größeren Karten sind zum Aufklappen.

Der freundliche Misrachi steht hinter der ausladenden Theke und sortiert. »Das mache ich den lieben langen Tag. Die Kunden schauen und wühlen, und ich räume auf. Man braucht viel Geduld dafür.« Die scheint er zu haben, denn wenn die Busse auf der lautesten Straße der Stadt hinter ihm anfahren, muss Misrachi seine Kunden anschreien: »Zwei Schekel die kleinen, vier die mittleren, die großen sieben oder acht. Ja, alle kommen mit einem Umschlag.« Doch er kennt es nicht anders. »Wir sind seit 40 Jahren hier. Immer an der Allenby Nummer 115. Das ist unser Standort. Und wir gehen nirgendwo anders hin.«

Tradition Begonnen hat alles vor vier Jahrzehnten mit Herzl Matza, einem Partisanenkämpfer und Holocaust-Überlebenden aus Griechenland. 1947 wanderte er ins damalige Palästina ein, in den 70er-Jahren eröffnete er den Kartenstand. Matza, der vor zwei Jahren starb, war Misrachis Schwiegervater. »Er stand hier bis zuletzt, und dann hat er mir das Geschäft vermacht. Wie konnte ich da Nein sagen?«

Die Karten, von Misrachi selbst designt und seit Jahrzehnten von derselben Druckerei gefertigt, zeigen meist die typischen Festtagsmotive: das Widderhorn Schofar, das zum neuen Jahr geblasen wird, Äpfel und Honig, religiöse Utensilien wie einen Kidduschbecher. Die meisten aber zieren rote Rosen, bunte Blüten, Musikinstrumente, lachende Kinder und Ornamente. Allesamt sind sie mit Glitzer in Silber oder Gold bestreut.

Doch oft sei der Neujahrsgruß früher mit aktuellen Geschehnissen verbunden worden, erklärt der Betreiber. Etwa in Kriegszeiten: »Diese stammt aus dem Sechstagekrieg von 1967.« Er zeigt auf eine kleine Karte, die eine Zeichnung von Soldaten vor der Kotel zeigt. Auf einer anderen schaut Theodor Herzl vom berühmten Balkon hinunter, links davon ist in einem kleinen Quadrat ein Kriegsflugzeug zu sehen, daneben steht das Wort »Sicherheit«.

Merav Amos hat 15 Stück gekauft. Für ihre Familie, die besten Freunde und Nachbarn. Die 25-jährige Tel Aviverin schreibt zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt Neujahrskarten. »Ich habe den Stand zufällig entdeckt und dachte mir, dass es sehr schön sein könnte, wenn Menschen, die mir wichtig sind, etwas im Briefkasten haben, das sie anfassen können. Normalerweise schicken alle schnell eine E-Mail oder eine Nachricht über WhatsApp. Ich möchte dieses Jahr aber etwas ganz Neues machen.«

gefühle »Etwas Neues!« Misrachi lacht schallend. »Das habe ich bis jetzt noch nicht gehört, wenn es um meine Karten ging.« Normalerweise macht eher die Generation der Großeltern seine Kundschaft aus. »Menschen, die schon immer Karten an Rosch Haschana geschrieben haben, tun es auch weiterhin.« Viele ältere Damen und Herren kommen oft und gern an Misrachis Stand, halten ein Pläuschchen und suchen ihre Lieblingsmotive aus. »Manche sind ganz aufgeregt und erzählen, dass die Bilder sie an ihr eigenes Leben und alte Zeiten erinnern.«

Auch Schula Levi kommt jedes Jahr vorbei. Sie fährt extra eine halbe Stunde mit dem Bus aus dem Norden der Stadt an, um ihre Wahl zu treffen. »Meine Enkelin hatte mir angeboten, Karten im Internet zu bestellen. Aber das ist nicht dasselbe. Ich muss sie vor mir sehen, in den Händen halten und das Papier fühlen.« Sie kann sich nicht erinnern, einmal keine Grußkarten versandt zu haben. »Das ist für mich Rosch Haschana«, sagt die elegant gekleidete Frau und lächelt. »Wenn ich sie erstanden habe, beginnt für mich die schönste Zeit im Jahr, die Festtagssaison.«

Das Hauptgeschäft macht Misrachi allerdings nicht mit Laufkundschaft, sondern mit Firmen und Organisationen. Viele kaufen gleich im Hunderterpack. »Eine Versicherungsgesellschaft in Tel Aviv beispielsweise nimmt mir jedes Jahr rund 700 Karten ab, die sie zusammen mit dem Feiertagsscheck an ihre Belegschaft verteilen. Der Blumenladen von Gegenüber holt immer 1500 ab, und auch Schulen und Kindergärten kaufen zuhauf.«

Manche der Motive sind bis zu 100 Jahre alt. Das älteste ist ein leicht verschwommenes Bild von zwei weißen Tauben in einem Blumengesteck vor goldenem Hintergrund. »Schana Towa« steht auf Hebräisch darunter, »Happy New Year« und »Bonne Année« daneben. »Manches ändert sich eben nicht«, sinniert Misrachi und streicht mit den Fingern über die glitzernden Blüten. »Denn diese Karte wird heute noch am liebsten genommen.«

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