Terror

Die zweite Front

»Ramallah hat die Kontrolle verloren«: bewaffneter Palästinenser in einer nach einem israelischen Anti-Terror-Einsatz zerstörten Straße in Dschenin Foto: Flash 90

Fast ein Jahr lang sollte es verhältnismäßig ruhig im palästinensischen Westjordanland bleiben – sehr zur großen Überraschung von Israels Sicherheitskräften, Politikern und Experten. Über mehr als zehn Monate hinweg geschah nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und dem Ausbruch des Krieges im Gazastreifen recht wenig. Doch damit ist nun Schluss. Momentan ist die Situation in dem Palästinensergebiet so explosiv wie schon lange nicht mehr.

»Es frustrierte die Hamas unendlich, dass sich die Palästinenser im Westjor­dan­land dem Krieg gegen Israel nicht anschließen wollten«, meint Michael Mil­shtein, Leiter des Forums für Palästinensische Studien am Moshe-Dayan-Zentrum für Nahoststudien der Universität Tel Aviv. »›Wie könnt ihr euer Leben weiterführen, wenn wir gegen die Besatzer kämpfen?‹, lautete der Vorwurf der Hamas. Doch die Menschen im Westjordanland wollten ihre Existenz nicht gefährden und waren vom ›Modell Gaza‹ eher abgeschreckt. Man sah dadurch aber auch deutlich, wie uneinheitlich die palästinensische Szene ist.«

Die Zeit der relativen Stabilität ist vorbei

Doch dann nahmen die Terroraktivitäten im Westjordanland dramatisch zu, und die Zeit der relativen Stabilität war vorbei. Wochenlang führte die israelische Armee massive Anti-Terror-Einsätze im nördlichen Westjordanland durch, die größten seit 2002. Die Eskalation habe drei Gründe, erklärt Milshtein: »Erstens unternimmt die Hamas immense Anstrengungen, um das Westjordanland in Brand zu stecken. Es ist wie ein persönliches Projekt von Zaher Jabarin, dem Anführer der Hamas im Westjordanland.« Jabarin selbst hat übrigens in Istanbul Unterschlupf gefunden.

Strategie der Hamas sei es, möglichst viele Terroranschläge zu verüben.

Strategie der Hamas sei es, möglichst viele Terroranschläge zu verüben, wie etwa die Ermordung von drei Polizisten in Hebron oder der Sprengsatz in Tel Aviv, der frühzeitig explodierte, den Attentäter tötete und einen Passanten verletzte. Zudem werden zahlreiche Anschlagsversuche von den Sicherheitskräften vereitelt, wie am Montag, als ein Terrorist auf der Schnellstraße Nummer 6 gefasst wurde.

»Der zweite Grund hat mit dem Iran zu tun«, weiß Milshtein zu berichten. Zwar hat Teheran keine direkten Marionetten im Westjordanland – schließlich führt die Hamas nicht einfach Befehle der Mullahs aus. Doch das Regime versucht auf anderen Wegen, Einfluss zu nehmen, besonders durch Waffenschmuggel über die löcherige Grenze zu Jordanien. »Das begann schon vor dem 7. Oktober. Wenn es heute Kämpfe zwischen der Armee und Terroristen gibt, dann tragen Letztere nicht selten hoch entwickelte Waffen ›Made in Iran‹.« Einige Waffen sowie Sprengstoffe seien mittlerweile sogar in den israelisch-arabischen Gemeinden zu finden, etwa in Taybe oder Kfar Kassem: »Das ist sehr beunruhigend.«

Als dritten Grund nennt der Sicherheitsexperte die geschwächte Palästinensische Autonomiebehörde unter dem greisen Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas. »Wir bezeichnen es als ›Dscheninisierung‹. Früher gab es Chaos und den Terror fast nur in der Stadt Dschenin. Mittlerweile aber ist die Autonomiebehörde im nördlichen Westjordanland kaum noch existent. Der Terror breitet sich auf Tulkarem, Nablus, Kalkilia, Jericho und andere Orte aus. Ramallah hat die Kontrolle verloren, und natürlich nutzt die Hamas jegliches Machtvakuum zu ihren Gunsten aus.«

»Die Autonomiebehörde ist das geringere Übel.«

Obwohl auch Milshtein die Autonomiebehörde äußerst kritisch betrachtet, ist er gleichermaßen davon überzeugt, dass Israel mit ihr zusammenarbeiten und Strafmaßnahmen wie beispielsweise das Einbehalten von Steuergeldern unterlassen sollte. »Es schwächt sie nur weiter. Natürlich ist die Autonomiebehörde nicht ideal und wahrlich kein Friedensbringer, aber Fakt ist, sie ist das geringere Übel. Die Alternative heißt Hamas.«

Um genau das zu verhindern, müsse man um die Ecke denken. »Denn ändern 40 tote Terroristen etwas an der Situation? Nicht wirklich!« Das israelische Sicherheitsestablishment unter der Leitung von Verteidigungsminister Yoav Gallant habe das verstanden und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entsprechende Vorschläge unterbreitet. Dazu gehört vor allem die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen im Westjordanland durch Schritte, die die Wirtschaft ankurbeln – schließlich stieg nach dem 7. Oktober die Arbeitslosenquote sprunghaft von 18 auf 35 Prozent.

Während der Premier das ähnlich sehe, würden die rechtsextremen Partner in der Koalition derartige Maßnahmen kategorisch ausschließen. »Dabei würde es auf eine völlig bizarre Weise ihnen sogar in die Hände spielen«, so Milshtein. Seine Erklärung dazu: »Vor Kriegsbeginn waren 175.000 palästinensische Bauarbeiter in Israel und den jüdischen Siedlungen im Westjordanland beschäftigt, heute sind es nur noch 25.000. Es ist die Agenda von Finanzminister Bezalel Smotrich, die Siedlungen auf Palästinensergebiet extrem auszuweiten. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er in zehn Jahren die Siedlerbevölkerung auf eine Million verdoppeln will. Doch was er dafür dringend braucht, ist klar: palästinensische Arbeiter.«

Die Hamas unternimmt immense Anstrengungen, um das Westjordanland in Brand zu stecken.

Auch die Gewalt extremistischer jüdischer Siedler gegen palästinensische Zivilisten stieg nach dem 7. Oktober sprunghaft an. Die Regierung in Jerusalem unternimmt wenig, um dem entgegenzuwirken. Ende August veröffentlichte das israelische Militär die Ergebnisse der Untersuchung des Siedlerangriffs auf das palästinensische Dorf Jit zwei Wochen zuvor. Demzufolge habe der Inlandsgeheimdienst Schin Bet die Armee und die Polizei von den Absichten der Siedler unterrichtet, »ein nationalistisches Verbrechen« zu begehen, bevor sie das Dorf überfielen.

Die Untersuchung ergab, dass die Soldaten bei der Niederschlagung der Gewalt »mit größerer Entschlossenheit« hätten vorgehen sollen. Avi Bluth, Chef des israelischen Zentralkommandos der Armee, sagte anschließend: »Dies ist der schwerste Terroranschlag von Israelis, die den Bewohnern von Jit absichtlich Schaden zufügen wollten. Und wir haben versagt, weil wir nicht früher eingetroffen sind und sie beschützt haben.«

Gleichzeitig an drei Fronten aktiv

Michael Milshtein ist überzeugt: Um die Lage zu entspannen, müsse Israel aufhören, an drei Fronten gleichzeitig aktiv zu sein. »Der Krieg gegen die Hamas in Gaza ist ein Zermürbungskrieg geworden, wir sind nicht einmal in der Nähe eines ›vollständigen Sieges‹, wie die Regierung uns vormachen will. Man kann diese Slogans zwar noch jahrelang weiter aufsagen, doch sie sind längst hohl geworden.« So betonte Israels Verteidigungsminister erst am vergangenen Dienstag, dass die »Hamas als organisierte Militärmacht in Gaza nach mehr als elf Monaten Krieg nicht mehr existent« sei.

Wäre der Gaza-Krieg beendet, würden sich infolgedessen die Front an der libanesischen Grenze und auch das Westjor­danland mit großer Wahrscheinlichkeit beruhigen, ist Milshtein sicher. »Zwar löst das die Probleme nicht für immer, aber es würde uns Zeit geben. Und dann könnte man sich auf die echte Bedrohung für Israels Existenz konzentrieren, und zwar den Iran.«

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