Gespräch

»Der Kampf ums Überleben dauert an«

»Fehlinformationen in der Presse wiederholen sich Hunderte Male und führen zu Desinformation«: Arye Sharuz Shalicar Foto: Marco Limberg

Gespräch

»Der Kampf ums Überleben dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  20.11.2025 14:05 Uhr

Herr Shalicar, in Ihrem neuen Buch »Überlebenskampf« schreiben Sie, dass Sie seit dem 7. Oktober 2023 keine klare Antwort auf die einfachste aller Fragen geben können. Versuchen wir es trotzdem: Wie geht es Ihnen?
Prinzipiell geht es mir heute deutlich besser als in den vergangenen zwei Jahren. Das bedeutet nicht, dass alles perfekt ist – ganz im Gegenteil. Aber ich habe das Gefühl, dass es auch wirklich gute Neuigkeiten gibt, dass immer wieder Lichtblicke auftauchen. Die lebenden Geiseln sind zurück, wir haben dramatische Situationen überstanden, und ich erfahre sehr viel Unterstützung und Verständnis. Im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahren, die von Angst, Verlust und Unsicherheit geprägt waren, ist das ein enormer Fortschritt. Ich habe das Gefühl, dass der Fokus nicht mehr nur auf dem Leid liegt, sondern auch auf den Erfolgen, auf der Bewältigung dieser Tragödien, und das tut dem Herzen gut.

In Ihrem Buch sind Ihre persönlichen Eindrücke und Erfahrungen festgehalten. Warum wollten Sie diese teilen?
Es gibt viele Gründe. Einer der zentralen ist, dass die internationale Wahrnehmung der vergangenen zwei Jahre oft einseitig war. Es ging viel um Gaza, ja, immer wieder. Im besten Fall wurde beiläufig erwähnt, dass es auch israelische Geiseln gab. Aber was kaum jemand weltweit wirklich verstanden hat, ist, dass in diesen zwei Jahren zehn Millionen Israelis und im Grunde alle Juden weltweit gelitten haben. Viele waren direkt betroffen – entweder durch den Verlust von Angehörigen, durch Misshandlungen, durch Geiselnahmen, durch Verletzungen im Einsatz oder durch Raketenangriffe auf die eigene Stadt. Dieses kollektive Leid wollte ich dokumentieren und den Menschen eine Stimme geben.

Und was bedeutet das für Sie persönlich?
Mein Buch ist gleichzeitig auch eine persönliche Verarbeitung. Schon bei meiner Autobiografie »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude« habe ich erlebt, dass das Aufschreiben von Schmerz hilft, ihn zu verarbeiten. Hier geht es mir ähnlich: Ich verarbeite die Erlebnisse als Israeli, als Armeesprecher und auch als Deutscher und Perser, der die Realität aus der Ferne beobachtet und diese Sicht in die internationale Perspektive übersetzen kann. Mein Ziel war es, die israelische und jüdische Sicht der vergangenen zwei Jahre chronologisch festzuhalten. Es sind Tagebucheinträge vom 7. Oktober 2023 bis zum 1. August 2025. Und das Buch hat eine klare Botschaft: Der Überlebenskampf dauert an, und die Welt sollte die Realität verstehen.

Sie schreiben, dass Sie als Armeesprecher in knapp 400 Tagen Reservistendienst eine zentrale Brücke zwischen Deutschland und Israel waren. Hatte das Erfolg?
Ich glaube schon. Gerade heute, beim Mittagessen in Tel Aviv, habe ich zwei Frauen aus Hannover getroffen, die die Gruppe »Iron Dome Hannover« mitgegründet haben. Sie erklärten mir, dass ihnen mein Podcast in den ersten Monaten nach dem Massenmordanschlag des 7. Oktober die Luft zum Atmen gegeben habe. Ihr eigenes Engagement sei durch meine Arbeit inspiriert worden. Das zeigt mir, dass mein Einsatz Menschen motiviert hat, aktiv zu werden, Widerstand zu leisten und klare Positionen gegen Hamas und radikale Gruppen einzunehmen. Ich habe Brücken gebaut – politisch, medial und menschlich – und habe vielen, die keinen direkten Zugang zur Realität Israels hatten, ein Gegengewicht zu verzerrter Berichterstattung geschaffen.

Sie gehen mit internationalen und deutschen Medien hart ins Gericht, sprechen von schlampigem Journalismus, sogar von Antisemitismus. Das klingt nicht sehr diplomatisch für einen Armeesprecher.
Ich spreche aus Erfahrung. Viele Journalisten haben mich nicht besucht, um meine Perspektive zu hören, sondern um mich als Zugang nach Gaza zu nutzen. Sie wollten mich nur als Werkzeug, nicht als Gesprächspartner. Sie wollten mit der IDF, der israelischen Armee, nach Gaza, um von dort zu berichten. Solche Praktiken führen zu verzerrten Darstellungen. Beispiele gibt es zuhauf: So berichteten BBC und andere Medien, dass es bei einem israelischen Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus Hunderte Tote gegeben habe. Doch die IDF konnte innerhalb weniger Stunden beweisen, dass es eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad war, die auf dem Parkplatz eingeschlagen war und Dutzende Opfer gefordert hatte. Aber da war die BBC-Meldung bereits um die Welt gegangen. Solche Fehlinformationen wiederholen sich Hunderte Male und führen zu Desinformation und zunehmendem Antisemitismus im Westen.

Ein Tagebucheintrag trägt die Überschrift: »Doppelidentität in Gaza und westliche Medienberichterstattung«. Jetzt haben wir ganz aktuell diesen ZDF-Skandal. Ist das eine Bestätigung dessen, was man schon von Anfang an wusste?
Absolut. Wer glaubt, es gäbe im Gazastreifen freie Medien, der irrt. Die Vorstellung, dass es dort unabhängige Journalisten gäbe, ist naiv. Medien, die behaupten, vor Ort objektiv berichten zu können, ignorieren die Realität einer radikal islamo­faschistischen Diktatur. Wer die israelische Perspektive ausblendet, handelt nicht aus Unwissenheit, sondern in vielen Fällen böswillig. Das ist genau das Problem, das ich in meinem Buch dokumentiere.

Unmittelbar nach dem Angriff auf den Hamas-Terroristen äußerte der ZDF-Korrespondent den Verdacht, die IDF nehme Journalisten direkt und gezielt ins Visier. Ist das nicht ein ungeheuerlicher Vorwurf?
Ja, das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Doch in den vergangenen zwei Jahren haben viele Medien die IDF oft schlechter dargestellt als die Hamas, die eine mörderische Terrortruppe ist. Wer unkritisch Informationen der Hamas übernimmt, macht sich indirekt mitschuldig an Desinformation. Diese verzerrte Darstellung schadet nicht nur der Israel-Politik, sondern befeuert Antisemitismus in Europa und weltweit.

Israel war im Krieg militärisch sehr erfolgreich, den Kampf um die öffentliche Meinung hat der jüdische Staat verloren. Warum?
Nach dem 7. Oktober befand sich Israel in einer Lose-lose-Situation. Wer aktiv gegen den Terror vorging, wurde kritisiert; wer passiv blieb, ebenfalls. Und im Endeffekt zählt für den Staat Israel und für unsere Kinder, dass man den Krieg gewinnt, dass man die Geiseln freibekommt – und erst danach, ob das irgendjemandem in einem ZDF-Studio gefällt oder nicht. Trotz unermüdlicher Bemühungen fehlte es oft an einer korrekten Umsetzung der Informationen seitens der Medien. Viele Berichte über Gaza erwähnten die Hamas nicht, das Schicksal der Geiseln wurde verschleiert oder falsch dargestellt. Die öffentliche Meinung wurde so massiv verzerrt. Selbst in führenden deutschen Medien erschienen Berichte, in denen das Wort »Hamas« oder »Geiseln« komplett fehlte.

In Ihrem Buch schreiben Sie den Satz: »Es geht nicht um Fakten, es geht um Emotionen gegen Israel und die Juden.« Ist das ein Fazit nach diesen knapp 400 Tagen?
Leider ja. Emotionen dominieren oft die Wahrnehmung, nicht Fakten. Länder wie Irland oder Südafrika projizieren ihre eigene Geschichte auf den Nahostkonflikt. In Deutschland spielt der Holocaust eine große Rolle in der Wahrnehmung. Viele betrachten die Situation durch diese Brille.

Sie waren im Oktober auf Lesereise in Deutschland, unter anderem in Nürnberg, Dresden, Köln und Wiesbaden. Es gab Protestbriefe und Demonstrationsaufrufe. Wie haben Sie das erlebt?
In sieben von neun Städten waren Proteste organisiert, oft über soziale Medien koordiniert. Vor Ort waren die Demonstranten meist wirkungslos. In Dresden etwa habe ich in der Offiziersschule des Heeres lesen und sprechen dürfen. Der Saal war mit 835 Gästen voll besetzt, draußen standen elf Protestierer. In Düsseldorf und Köln waren etwa jeweils 250 Gäste anwesend, draußen 70 bis 80 Demonstranten. Viele wollten keinen Dialog, sondern Stimmungsmache. Das sind tatsächlich keine pro-palästinensischen Demonstranten, sondern ein terrorunterstützender, antisemitischer Mob.

Hat es nicht auch eine neue Qualität, wenn Proteste vor oder sogar in Synagogen stattfinden und die jüdische Gemeinde in Wiesbaden von einem »Klima der Ausgrenzung« spricht?
Ja, das zeigt, dass Antisemitismus oft tiefer liegt als Kritik an Israel. Viele Teilnehmer identifizieren sich mit antisemitischen Vorurteilen, die sich in solchen Demonstrationen spiegeln. Gleichzeitig fallen Masken: Man erkennt sofort, wer dialogbereit ist und wer die Zerstörung Israels wünscht.

Zurück zu Israel: Sie schreiben, dass viele Reservisten, denen Sie begegneten, schwer enttäuscht sind. Das Mindeste, was sie erwarten, ist, dass alle Verantwortlichen zurücktreten und es Neuwahlen gibt. Werden die Erwartungen erfüllt?
Vertrauen muss zurückgewonnen werden – sowohl in die Verteidigungskräfte als auch in die Politik. Politische Entwicklungen werden sich bei den Wahlen 2026 abbilden. In Israel selbst gibt es Fortschritte und erfolgreiche Operationen unserer Armee. Aber die Bedrohung durch Hamas, Hisbollah, Iran und ihre Verbündeten ist nach wie vor vorhanden. Diese Kräfte haben sich ja nicht in Luft aufgelöst. Irgendwann wird es eventuell wieder krachen.

Über dem letzten Kapitel Ihres Buches steht die Frage, ob Frieden im Nahen Osten möglich ist. Doch Sie meinen, dass der Überlebenskampf weitergeht?
Der Überlebenskampf geht definitiv weiter. Die jüdische Geschichte zeigt, dass wir seit 2000 Jahren immer wieder Pogromen, Holocaust und Massakern ausgesetzt sind. Der 7. Oktober reiht sich in diese Geschichte ein. Frieden ist möglich, insbesondere durch Kooperation mit arabischen und muslimischen Staaten. Alle reden von den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Malaysia und Indonesien. Es gibt nicht wenige, die von einer Normalisierung mit Libanon, Syrien und Tunesien träumen. Da ist sehr viel, was kommen könnte und hoffentlich kommen wird. Das wird das iranische Regime und seine Verbündeten nicht von ihrem Ziel abhalten, die Juden und Israel zu vernichten. Deshalb muss Israel jederzeit bereit sein, sich zu verteidigen. Der Überlebenskampf ist noch lange nicht vorbei.

Das Interview mit dem Autor, Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (in Reserve) und Abteilungsleiter im Büro des israelischen Premierministers sprach David Kauschke.

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