Ariel Scharon

Das Erbe des Bulldozers

Ariel Scharon im Jahr 2005, der wohl umstrittensten Phase seiner Amtszeit Foto: picture alliance / AP Photo

Ariel Scharon

Das Erbe des Bulldozers

Vor zehn Jahren starb der ehemalige Ministerpräsident Israels. Über seine Entscheidung zum Abzug aus dem Gazastreifen wird heute noch gestritten

von Ralf Balke  11.01.2024 09:38 Uhr

Sie hatten alles versucht. In der Hoffnung, ihren Vater Ariel Scharon aus dem Koma, in dem er seit Anfang 2006 lag, zurückzuholen, hatten seine Söhne sogar Lammfleisch am Krankenbett gegrillt. Mit dem Duft seiner Lieblingsspeise wollten sie einen Aufwachprozess stimulieren. Geholfen hat es am Ende nicht. Ohne jemals wieder das Bewusstsein erlangt zu haben, verstarb Arik, wie er bei den Israelis hieß, am 11. Januar 2014 im Alter von 85 Jahren.

»Arik war in allererster Linie ein Kämpfer«, so Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in seinem Nachruf. »Er hat sein Leben der Sicherheit des Staates gewidmet und etablierte im Kampf Israels gegen den Terrorismus zwei Prinzipien, die bis heute gelten: Eigeninitiative und Vergeltung.«

Andere sahen das nicht so. »Scharon war gewiss einer der großen Architekten des Landes Israel, aber ebenso einer seiner großen Zerstörer«, erklärte damals Orit Struck, eine prominente wie auch radikale Lobbyistin der Siedlerbewegung, die heute Ministerin für Nationale Missionen ist. »Während wir Scharon für seine großen Leistungen für den Staat Israel zu Dank verpflichtet sind, müssen wir auch Gott dafür danken, dass er ihn aus der Politik holte, bevor er in der Lage war, den Bewohnern von Judäa und Samaria die gleiche Katastrophe zu bescheren wie denen aus dem Gush Katif im Gazastreifen.«

Spektakuläre Karriere bei der Armee, dann der Absturz

Damit brachte sie die Feindschaft der Siedlerbewegung gegen den Mann auf den Punkt, der ursprünglich zu deren wichtigsten Förderern gehört hatte. Denn nach einer spektakulären Karriere bei den Streitkräften – 1973 war Scharon mit seiner Panzereinheit am Suezkanal der Durchbruch gelungen, was die Wende im Jom-Kippur-Krieg einleitete – war er in die Politik gegangen, wurde Landwirtschafts- und Verteidigungsminister unter Premier Menachem Begin. Wegen seiner unrühmlichen Rolle im Libanonkrieg 1982 gab es zwar einen Karriereknick, aber schon kurz darauf erfolgte das Comeback als Bau-, Infrastruktur- und Außenminister. Und in all diesen Jahren hatte er den Siedlungsbau in den 1967 von Israel eroberten Gebieten stets massiv vorangetrieben.

Doch so eigenmächtig und unkonventionell wie Scharon als Offizier und General gehandelt hatte, so überraschend agierte der »Bulldozer«, wie Freund und Feind ihn nannten, auch, als er 2001 Ministerpräsident wurde. 2003 verkündete er seinen Plan eines einseitigen Abzugs aus Gaza, der dann im Sommer 2005 trotz heftiger Proteste umgesetzt wurde. Israel räumte alle 21 israelischen Siedlungen sowie vier weitere im Westjordanland. Dagegen revoltierten nicht nur die Siedler im Gazastreifen, sondern auch Teile der eigenen Partei, des Likud, weshalb Scharon kurzerhand seinen Austritt erklärte und mit »Kadima« eine neue Partei gründete, die mehrere Jahre die Regierung anführen sollte.

Der Rückzug aus Gaza hat die radikalen Kräfte gestärkt.

Nicht erst seit den Ereignissen vom 7. Oktober fragen sich die Israelis, ob Scharons Entscheidung von damals eine gute Idee war und was man vielleicht hätte anders machen können. »Der Rückzug soll ein Maximum an Sicherheit gewährleisten und die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern minimieren«, hatte Scharon kurz nach Bekanntgabe seines Plans erklärt. Sein damaliger Verteidigungsminister Schaul Mofaz glaubte, dass so nicht die Hamas, sondern die gemäßigteren Kräfte im Gazastreifen gestärkt würden. Bekanntermaßen ist das Gegenteil von allem eingetreten.

Sogar der aktuelle Staatspräsident Isaac Herzog, damals ein Unterstützer des Vorhabens, sieht es mittlerweile anders. Aus demografischer Sicht sei das alles zwar richtig gewesen, aber »aus sicherheitspolitischer Sicht war der Rückzug zweifellos ein Fehler«, bekannte er anlässlich des zehnten Jahrestags der Räumung. »Wir lagen auch mit unserer Einschätzung falsch, dass Gaza nach dem Rückzug das Hongkong des Nahen Ostens werden würde. Stattdessen ist eine riesige Raketenabschussbasis entstanden.«

Palästinenser interpretierten den Rückzug als Sieg

Für Gershom Gorenberg, einen Publizisten und Kenner der Siedlungsbewegung, lag der Kardinalfehler in der Einseitigkeit des Rückzugs. »Im krassen Gegensatz zu Israels Rückzug aus dem Sinai zuvor war der aus dem Gazastreifen nicht das Ergebnis von Verhandlungen mit einer arabischen Seite«, schrieb er vor wenigen Monaten in der »Washington Post«. »Es wurde kein Friedensvertrag unterzeichnet, es wurde keine Vereinbarung über die Beendigung des Konflikts getroffen. Es gab keinen internationalen Mechanismus zur Friedenssicherung.«

Die Palästinenser interpretierten den Rückzug daher als Folge ihrer Angriffe auf die israelische Armee und die Siedlungen im Gazastreifen und somit als »Sieg des bewaffneten Widerstands«, so die Einschätzung vieler Experten. Genau das sollte eine der Lektionen für die Zukunft sein, vor allem jetzt, wenn in den Plänen für die Zeit nach dem Krieg auch wieder viel von einer Zweistaatenlösung die Rede ist. Diese befindet sich aber seit Jahren im Koma. Und wie der Aufwachprozess stimuliert werden könnte, das kann derzeit noch niemand erklären.

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