Reportage

Alltag ohne Normalität

Israelische Soldaten in Hebron Foto: Flash 90

Es ist schon dunkel, als der Bus auf den großen Parkplatz inmitten der Häuserruinen einfährt. Kinder in abgewetzter Kleidung laufen vorüber, sonst ist wenig Zivilbevölkerung zu sehen. Ich laufe an Grenzschutzsoldaten vorbei, die sich zum Rauchen oder um eine große Pizza-Platte zusammensetzen. Straßensperren, Gehwegzäune, Müll.

Ein ganz normaler Abend am Chol Hamo’ed Sukkot, an dem täglich Zehntausende Besucher in diese Stadt kommen, um am Grab Abrahams, Jitzhaks und Jakows zu beten, das zwei Mal im Jahr für eine Woche fast so zugänglich gemacht wird wie die Klagemauer. Nichts deutet darauf hin, dass hier vor 26 Stunden ein Soldat von einem Scharfschützen erschossen wurde.

Spätestens seit den Pogromen von 1929 hat Hebron den Ruf eines Konfliktherdes und eines Epizentrums der Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern. Von vielen gläubigen Juden wird die Stadt mit der Machpela-Höhle, wo nach Traditionsüberlieferung die Vorväter der jüdischen Religion begraben sind, als eine der heiligen Städte in Israel verehrt. Anders als andere heilige Orte, die frei besucht werden können, liegt Hebron aber an der direkten Schnittstelle des Konflikts. Die meiste Zeit des Jahres wird der Hauptsaal der Höhle, die zur osmanischen Zeit zu einer Festung ausgebaut wurde, für jüdische Pilger gesperrt und ist nur für muslimische Besucher geöffnet.

Fremdkörper In Hebrons Altstadt lebt eine kleine jüdische Minderheit, die international und von der arabischen Bevölkerung als Fremdkörper betrachtet wird. Ihre Präsenz wird von in der Stadt stationierten Armeeeinheiten garantiert. An Hebron, auf einem die Stadt überblickenden Hügel, grenzt die Siedlung mit dem biblischen Namen Kiryat Arba, die eines der größeren in diesem Teil der unter israelischer Verwaltung stehenden Gebiete darstellt.

Seit Jahren ist es üblich, dass an den Hohen Feiertagen die Altstadt von Hebron, einige der umliegenden Hügel, das Avraham-Avinu- und Tel Rumeida-Viertel und das Zentrum der Altstadt, die Machpela-Höhle, für jüdische Besucher nahezu uneingeschränkt zugänglich gemacht werden. Zentausende Besucher kommen hierher. Veranstaltungen, Konzerte und Führungen durch für Israelis erlaubtes Gebiet werden organisiert.

Es ist wie auf einem Vergnügungspark: Zuckerwatte- und Souvenirverkauf, Pizzastände, Musik, Tänze. Wenn man von den Soldaten absieht, die, so scheint es, jede freie Lücke zwischen den halbzerstörten Häusern der Altstadt füllen oder auf Dächern ungerührt auf die Besucher herabschauen und ab und zu bettelnde arabische Jugendliche von oben aus ermahnen.

Sprachlos Am 22. September, gegen sechs Uhr abends, einige Meter vom großen Busparkplatz entfernt, auf dem reges Treiben von Besuchern herrschte, standen einige Soldaten der Givati-Brigade an einer Straßensperre, die den für alle zugänglichen Parkplatz von den Gassen und den bewohnten Häusern trennt. Da ertönte ein Schuss, und Feldwebel Gal (Gabriel) Koby, 20, sank zu Boden.

»Wir saßen dort, als der Soldat angeschossen wurde. Ich habe ihn noch kurz zuvor gesehen«, erzählt Busfahrer Schlomi, der an diesem Tag mit anderen Egged-Mitarbeitern am Parkplatz die Fahrkarten austeilte. Die israelischen Medien sprechen von einem Scharfschützen, jedoch bestätigt die Armee das nicht. Schlomi erzählt: »Die Soldaten stürmten in Richtung des Verletzten. Was mich sprachlos machte, waren die freiwilligen Fotografen von der linken Organisation B’tselem, die schon zuvor um die Soldaten herumschwirrten und alles fotografierten, um aufzupassen, dass kein Soldat gegen einen Palästinenser ausfällig wurde. Als Gal Koby niedergeschossen wurde, rannten sie den Soldaten hinterher, als sei alles geplant und einstudiert!«

Angst Die Besucher der Altstadt werden von der Armee aufgefordert, den Ort schleunigst zu verlassen. Das Betreten von Hebron wird untersagt, die Anwesenden werden zu den Shuttle-Bussen geschickt. Nach acht Uhr abends ist kein Besucher mehr in der Altstadt zu finden. »Die Menschen hatten Angst«, sagt Schlomi. »Ich habe die Shabak-Kräfte anrücken sehen. Am nächsten Morgen kam eine Spezialeinheit der Fallschirmspringerbrigade, sie haben die Häuser durchsucht. Bis zum Mittag ließ sich kein Pilger in der Stadt blicken.«

Später am Abend des 22. September verkünden die Nachrichten den Tod des 20-jährigen Gabriel Koby. Es heißt, der Schütze sei noch nicht gefasst worden. Der Beerdigung Kobys am folgenden Tag wohnen Tausende bei. »Nur eine Gruppe von zehn Soldaten wurde als Vertretung seiner Einheit zur Beerdigung geschickt. Ich habe heute mit einem der besten Freunde von Gabriel zusammengesessen. Er hat mit ihm in einem Zimmer geschlafen, aber mitkommen durfte er nicht«, erzählt Schlomi.

Albtraum Trotz des schrecklichen Ereignisses wird das Konzert am Nachmittag des 23. September nicht abgesagt. Von den erwarteten 35.000 Besuchern erscheinen knappe 20.000. Die 30 bestellten Shuttles werden auf 15 reduziert.

Ich drehe eine Runde durch die Hallen der Grabstätte. Noch immer sind Sicherheitskräfte vor Ort. »Ein Albtraum, so viele Menschen waren heute da. Erst jetzt darf ich mich hinsetzen«, sagt ein junger Grenzschutzsoldat.

In einer hell beleuchteten, aber einsamen Gasse sehe ich drei Soldaten hinter mir hergehen. An einer Straßensperre plaudere ich mit ein paar weiteren Soldaten. Sie kennen den verstorbenen Gabriel nicht. Auch Angst zeigen sie keine. Nir nennt seinen erst vor Kurzem angetretenen Dienst in dieser Gegend »ein Erlebnis«. Ob es heute Vorfälle gegeben hat? »Es ist alles in Ordnung«, winken er und seine Kameraden ab. Die Standardantwort.

Ruhe In Hebron sind mehrere Einheiten an der Sicherung der Straßen beteiligt, nach dem Anschlag wurde Verstärkung geordert. Mitten auf einer menschenleeren Straße ein junger Mann in Uniform. Als wir uns unterhalten, kommen weitere hinzu. »Nach links solltest du nicht gehen, es sei denn, du willst eine Kugel im Kopf«, berät mich einer. Der Unglücksort ist nur einige Hundert Meter weiter. Sie stehen unschlüssig herum und wissen nicht, ob sie mich weitergehen lassen sollen.

»Gibt es nicht eine Ausgangssperre?«, wundere ich mich. »Die gab es in der Nacht. Jetzt laufen alle frei herum«, klärt mich Omri auf. Plötzlich rufen ihnen Stimmen von einem der Dächer etwas zu. Es sind Wachen und Scharfschützen – israelische. »Mach doch ein Lied an, wir wollen Musik«, schreit Omri zurück und lacht mich an. Als ein Minibus von Egged vorbeifährt, setzen die Soldaten mich kurzerhand hinein. Jetzt haben sie ein Sicherheitsproblem weniger. Ein besucherreicher Tag in Hebron bleibt ihnen noch, nach Simchat Tora ist der Ansturm für die nächsten Monate vorbei.

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