Justiz

Unerträglicher Widerspruch

Denunziert zu werden, war im Nationalsozialismus, vor allem in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, tödlich. Zahlreiche Menschen wurden aufgrund gezielter Denunziationen hingerichtet. Ein Witz über Hitler oder das Hören der sogenannten Feindsender genügte den Richtern als Beleg für die staatsgefährdende Haltung des Delinquenten, den Rest erledigte der Scharfrichter.

Als alliierte Gerichte nach 1945 vermehrt Denunzianten vor Gericht stellten, beriefen sich diese stets darauf, dass sie sich nur an Recht und Gesetz gehalten hätten. Die Alliierten erklärten indessen unmissverständlich, dass sie Gewalttaten, Mord und Ausrottung ahnden werden, unabhängig davon, ob die entsprechenden Taten durch die nationalsozialistische Gesetzgebung gedeckt waren oder nicht.

Doch nicht nur die Denunzianten beriefen sich auf Recht und Gesetz, sondern auch die Richter, die mit ihren Urteilen das Schicksal vieler Menschen besiegelt hatten. Bei ihrem Versuch, sich von der eigenen Verantwortung für die oftmals krassen Urteile zu befreien, bekamen die Richter Hilfe von unerwarteter Seite. Im August 1946 veröffentlichte der bekannte Rechtspolitiker und Jurist Gustav Radbruch einen schmalen Aufsatz in der »Süddeutschen Juristen-Zeitung«, der wie kaum ein anderer Beitrag die Diskussion um den richtigen Umgang mit den Rechtsperversionen des Nationalsozialismus beeinflussen sollte.

»Drittes Reich« Seine Stimme hatte Gewicht, er gehörte zu den wenigen Juristen, die tatsächlich unbelastet waren. Gustav Radbruch, Jahrgang 1878, war Professor in Heidelberg, Königsberg und Kiel, bevor er 1920 für die SPD in den Reichstag gewählt wurde. Von 1921 bis 1926 war Radbruch Reichsjustizminister. Danach war er wieder Professor in Heidelberg, bis ihn die Nationalsozialisten 1933 entließen. Das »Dritte Reich« verlebte er in weitgehender Isolation.

Nach Kriegsende kehrte Radbruch an die Universität Heidelberg zurück. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen brauchte der damals 67-Jährige nichts zu verschweigen, musste sich nicht rechtfertigen und genoss gerade darum ein hohes Ansehen unter seinen Studenten. Der Artikel über »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« gehört zu Radbruchs ersten Stellungnahmen nach dem Krieg. Er entwickelt darin die These, dass ein Gesetz auch dann bindend und gültig sei, wenn es bestimmte Moralvorstellungen oder Gerechtigkeitskonzepte verletze, es sei denn, »der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit« erreiche ein unerträgliches Maß. In diesem Fall müsse das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit weichen. Dort, wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt werde, wo die Gleichheit bei der Setzung des Rechts bewusst verleugnet werde, da entbehre das Gesetz überhaupt der Rechtsnatur.

Rechtspositivismus
Aber wie verhielt es sich mit der Verantwortung der Richter, welchen Anteil hatten sie an den juristischen Exzessen der NS-Rechtsprechung, an den zahlreichen Todesurteilen und Schnellverfahren? Hierzu lieferte Radbruch die überraschende Antwort, mit dem Grundsatz »Gesetz ist Gesetz« habe der Nationalsozialismus die Juristen an sich gefesselt und den deutschen Juristenstand gegen Gesetze willkürlichen Inhalts wehrlos gemacht.

An anderer Stelle schrieb Radbruch, das rechtliche Unrecht könne dem Richter aufgrund seiner positivistischen Rechtserziehung nicht als persönliche Schuld angelastet werden. Die Wirkung dieser Aussage wurde noch dadurch verstärkt, dass Radbruch gleichsam als Kronzeuge auftrat, hatte er doch immer als ein leidenschaftlicher Verfechter des Rechtspositivismus gegolten, also der Auffassung, wonach das vom Menschen gesetzte Recht immer auch gültiges und bindendes Recht sei, unabhängig von dem jeweiligen Inhalt. Für den Richter sei es Berufspflicht, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, hatte Radbruch in seiner Rechtsphilosophie formuliert. »Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine innere Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt.«

Doch hatten jene Richter, die Denunzierte zum Tode verurteilten, tatsächlich gegen ein widerstrebendes Rechtsgefühl ankämpfen müssen? Waren sie am Ende nur die Opfer einer juristischen Theorie, Opfer ihrer Ausbildung? Die Thesen Radbruchs lenkten den Blick von der konkreten Auslegungspraxis ab. Es war letztlich eine Fiktion, dass Richter nur nach dem Wortlaut des Gesetzes urteilen. Diese Fiktion entsprach zwar der Theorie des Rechtspositivismus, deckte sich aber kaum mit der Wirklichkeit der Rechtsprechung im Nationalsozialismus. Vielmehr zeichnete sich das nationalsozialistische Rechtsdenken gerade durch die Auslegung und Anwendung von bereits vorhandenen Rechtsnormen im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung aus.

Gesinnung Für die Nationalsozialisten war es oft gar nicht notwendig, neue Gesetze zu erlassen, da die Richter das alte Recht überwiegend im Sinne der nationalsozialistischen Idee auslegten. Weit entfernt davon, gegen innere Vorbehalte oder berufsethische Skrupel ankämpfen zu müssen, versuchten sie in vielen Fällen, durch besonders harte und kompromisslose Urteile ihre nationalsozialistische Gesinnung unter Beweis zu stellen. Die geltenden Gesetze waren ihnen hierbei oft mehr lästige Fessel als sichere Stütze.

Radbruchs Thesen wurden indessen von vielen Juristen dankbar aufgegriffen, und so entstand die Legende, der Rechtspositivismus mit seiner Auffassung, Gesetz sei Gesetz, habe die Justiz wehrlos gemacht. So ließen sich die eigene Verstrickung und der eigene Anteil an den juristischen Exzessen des Nationalsozialismus wirkungsvoll verdrängen. Dem nationalsozialistischen Unrechtsregime gerade noch entkommen, konnte man sich jetzt an den Aufbau des demokratischen Rechtsstaates machen. Juristen wurden überall gebraucht, und selbst die Alliierten beugten sich sehr bald pragmatischen Überlegungen und stellten auch belastete Juristen wieder ein.

Elite Die juristische Elite wurde nach 1945 nicht ausgetauscht, aber die Kräfteverhältnisse änderten sich, die Hardliner nationalsozialistischen Rechtsdenkens hielten sich zurück, gemäßigte und demokratischer gesinnte Juristen gewannen an Einfluss. Unter ihnen gab es nicht wenige, die sich für eine aktive Verfolgung von NS-Tätern einsetzten. Radbruchs Aufsatz stellte ihnen wichtige Argumente zur Verfügung. Mehrfach berief sich der Bundesgerichtshof in der Folge auf die Thesen Radbruchs, die bald nach ihrem Urheber benannte »Radbruchsche Formel« wurde mit der Zeit fester Bestandteil der Rechtsprechung. Zuletzt wurden Radbruchs Thesen noch einmal im Zusammenhang mit der juristischen Aufarbeitung des DDR-Unrechts aufgegriffen.

In wenigen Sätzen hatte Radbruch das Dilemma jeder modernen Rechtsordnung auf den Punkt gebracht. Die Trennung von Recht und Moral macht das Recht flexibel und damit anpassungsfähig. Ohne diese Anpassungsfähigkeit des Rechts an neue gesellschaftliche Verhältnisse wäre eine moderne staatliche Ordnung nicht möglich. Doch diese Offenheit bedeutet eben auch, dass letztlich jede Entscheidung, jede Idee verbindliches Recht werden kann, selbst die Tötung psychisch Kranker oder die Folter.

Diese Konsequenz modernen Rechts wollte Radbruch nicht akzeptieren. Es müsse einen Kern unveränderlicher und absolut gültiger Werte geben, der von keiner staatlichen Ordnung angetastet werden dürfe. In seiner ersten Entscheidung griff das Bundesverfassungsgericht diesen Gedanken auf und formulierte: »Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechts an.«

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