gelsenkirchen

Wieder zu Hause

von Heide Sobotka

Erinnerung und Aufbruch, Schmerz und Freude beherrschen die Gefühle der 400 Ehrengäste bei der feierlichen Synagogeneröffnung in Gelsenkirchen. Erinnerung und Schmerz über die während der Naziherrschaft ermordeten Menschen und die geschändeten Bauten, Freude über den Bau des Gemeindezentrums und den Neuanfang. Unter den Gästen befinden sich jüdische, christliche und muslimische Repräsentanten, Landes- und Kommunalpolitiker, Freunde, Unterstützer und Mitiniatoren des Synagogenneubaus sowie Ver- treter der jüdischen Gemeinden aus Köln, Düsseldorf, Osnabrück und Bielefeld.
Vor 122 Jahren wurde an derselben Stelle ebenfalls eine Synagoge eröffnet. Wie an diesem 1. Februar 2007 waren damals Repräsentanten von Stadt und Land sowie Kirchenvertreter unter den Gästen. »Doch wie lange sollte diese positive Anteilnahme halten?«, fragt die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. »Und wie lange wird es heute dauern?« Doch sie sei zuversichtlich, sagt Knobloch. Genauso wie die Gelsenkirchener Gemeinde und mit ihr die vielen jüdischen Zuwanderer, die ein tiefes Vertrauen in eine starke Demokratie zeigten, wenn sie eine Synagoge bauen. Zuversichtlich sei sie wie einst die aus den Konzentrationslagern heimkehrenden Juden, die die Gemeinden wieder aufbauten. Und an die Hauptorganisatorin des Neubaus, Judith Neuwald-Tasbach, gewandt, fügt Knobloch hinzu: »Wir beide dürfen das Erbe unserer beiden Väter Fritz Neuland und Kurt Neuwald fortführen.«
Eine kleine Gemeinde habe Gelsenkirchen 1989 gehabt, erinnert die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe, Hanna Sperling. Damals habe man nicht geglaubt, das durch die Nazis scheinbar irreparabel Zerstörte wieder aufbauen zu können. Daran, wie bedroht die Gemeinschaft Ende der 80er Jahre war, kann sich auch der Düsseldorfer Rabbiner Julien Chaim Soussan erinnern. »Ich bin in einem kleinen Dorf im Schwarzwald aufgewachsen. Der nächsten jüdischen Gemeinde gehörten nur wenige alte Menschen an. Synagogen wurden damals zu Museen. Und heute gibt es so viele jüdische Menschen, dass es wieder notwendig wird, ein Haus zu bauen«, sagt Rabbiner Soussan. Er sei tief gerührt, heute in diesem wunderschönen Bau an der Einweihung teilhaben zu können. Er wünsche der Gemeinde Herz im Inneren und Herzlichkeit in der gesellschaftlichen Umgebung.
Fawuk Ostrowiecki kann seine Rede kaum zu Ende führen. Verschämt trocknet der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen seine Tränen mit dem Ta-schentuch. Glück und Freude über die Einweihung des neuen Gemeindezentrums haben ihn überwältigt. Erleichterung, Erschöpfung, sie ist an diesem Tag fast allen Beteiligten anzusehen: vor allem der Organisatorin des Baus, Judith Neuwald-Tasbach sowie den Architekten Benedikta Mihsler und Reinhard Christfreund, als sie dem Gemeindevorsitzenden den symbolischen Schlüssel für die Synagoge überreichen.
»Ich stehe heute vor Ihnen und kann es noch gar nicht beschreiben, was unsere Gemeinde in den letzten Wochen und Monaten erlebt hat«, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Der emotionale Mix aus Freude, Glück, Dankbarkeit, Stolz ließen sich kaum in Worte fassen.
Diese Gefühlslage kennt auch der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen, Frank Baranowski. »Der Glaube versetzt Berge«, sage der Volksmund. Die Gelsenkirchener Gemeinde habe mit dem Neubau diesen sprichwörtlichen Berg versetzt. Mühsam sei der Weg gewesen trotz aller Unterstützung von Land und Stadt. Baranowski vergleicht ihn mit dem Exodus der Israeliten. »Heute haben wird den Zug mit der Tora wenige Schritte von hier empfangen, mitten zwischen den christlichen Kirchen und gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern weiterer Religionen.« Dies dürfe die jüdische Gemeinde als Zeichen und als Versprechen nehmen. »Sie werden hier in der Innenstadt gut aufgehoben sein«, verspricht Baranowski.
Er wünsche sich, dass mit der neuen Synagoge die jüdische Identität bewahrt, praktiziert und gestärkt wird, sagt der Gesandte des Staates Israel in Deutschland, Ilan Mor. Mit dem neuen Gemeindezentrum möge ein »Ort der Begegnung entstehen, der auch dem Austausch über die jüdische Religion und Kultur dient, das Ge- meindeleben stärkt und nicht jüdische Besucher aus Ihrer Stadt, der Region und darüber hinaus, ansprechen und anziehen wird«, betont Mor.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sieht schon heute einen Teil dieses Wunsches erfüllt. »Wer eine Synagoge baut, will, dass seine Kinder und Enkelkinder bleiben und die jüdische Tradition fortsetzen«, wandelt Rüttgers den oft zitierten Satz »wer baut, will bleiben« ab. Mit Blick auf die vielen Aufgaben der jüdischen Gemeinden habe die Landesregierung die Staatsleistungen vor Kurzem aufgestockt. Auch mit der Hoffnung, dass das Fragezeichen, das Paul Spiegel sel. A. im Titel seiner Autobiografie Wieder zu Hause? gesetzt habe, in einigen Jahren mit einem Ausrufezeichen versehen werden kann.
5,2 Millionen Euro hat der Bau im Herzen der Altstadt von Gelsenkirchen gekostet. Finanziert wurde er je zu einem Drittel vom Land Nordrhein-Westfalen, der Stadt Gelsenkirchen und der Jüdischen Gemeinde selbst. Entstanden auf dem Platz, wo vor etwas mehr als 68 Jahren die Synagoge niederbrannte, hat das jüdische Gemeindezentrum nicht nur städtebaulich, sondern auch gesellschaftlich in den Kern der Stadt zurückgefunden.
»Juden suchen in Deutschland wieder eine Zukunft. Wirkt das nicht wie ein Wunder?«, fragt Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch. »Ich glaube fest daran, dass es sich lohnt«, betont sie. Die vielen Umarmungen, Glückwünsche, die Herzlichkeit an diesem Tag scheinen sie zu bestätigen.

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