Bücherverbrennung

Stille Tage in Pretzien

von Steffen Reichert

Friedrich Harwig ringt mit sich. Soll er reden oder soll er nicht? »Wann immer ich etwas dazu gesagt habe«, gibt der ehrenamtliche Bürgermeister als Erklärung an, »hat es meinem Dorf nichts genützt.« Worüber in dem 970-Seelen-Dorf Pretzien, in der Nähe von Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Magdeburg gelegen, am liebsten niemand sprechen will, ist der Vorfall, der das ganze Land aufschreckte. Rechtsextreme hatten ein Exemplar des Tagebuchs der Anne Frank bei einer »Sonnenwendfeier« auf den Scheiterhaufen geworfen. Und eine US-Flagge noch dazu.
Fünf der sieben Täter wurden im März zu Bewährungsstrafen verurteilt. Ihre Berufung haben sie soeben zurückgezogen – aus »beruflichen Gründen«, wie es von Seiten der Anwälte heißt. Die Strafen sind damit rechtskräftig.
In Pretzien wird gerne unterteilt: in Vorher und Nachher. Vorher war die Welt noch in Ordnung. Da gab es das Dorf, das vor allem für seinen Elbe-Radweg und die romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert bekannt war. Es gab den Angelverein und die Freiwillige Feuerwehr. Man traf sich im Tante-Emma-Laden, trank dort am Stehtisch sein Bier und grüßte freundlich die Nachbarn.
Dann kam die von einer Kulturkommission des Dorfes offiziell organisierte Sonnenwendfeier im Juni 2006, als ein halbes Dutzend junger Männer aus dem Ort das Tagebuch dem Feuer übergab. An diesem Abend begann das »Danach«.
Pretzien ist ein schmucker Ort. Die sanierten Häuschen zeigen, dass es den Menschen hier recht gut geht. Auf den kleinen Straßen ist kaum Leben. Wer die zentrale August-Bebel-Straße passiert, wird deshalb sofort als Fremder und möglicherweise Journalist identifiziert. Er stößt auf wortkarge Leute und hört Sätze wie: »Die Stimmung im Dorf? Da müssen Sie schon meinen Mann fragen!« Mit dem falschen Autokennzeichen können auch schon einmal die Reifen dran glauben. Unter bösen Blicken gelangt man ins sanierte Dorfgemeinschaftshaus, wo Bürgermeister Friedrich Harwig sein Büro hat.
Harwig ist 67 Jahre alt, war 25 Jahre lang Offizier der NVA, danach Erzieher und schließlich Versicherungsvertreter. Er sieht sich selbst als »bekennenden Kommunisten«. Kaum anzunehmen, dass er Verständnis für die Tat der jungen Männer hat. Und doch: Harwig ist noch immer der Überzeugung, dass es richtig war, die Männer in die Vereinsarbeit des Dorfes einzubeziehen. »Früher«, sagt er, »haben die deutschlandweite Neonazitreffen im Ort organisiert«. Natürlich wusste er, dass ihr »Heimatbund Ostelbien« die Nachfolgeorganisation der örtlichen Kameradschaft gewesen ist. Doch seit die Männer im Dorf mitmachen können, habe es solche Großveranstaltungen nicht mehr gegeben. Natürlich: Hätte er gewusst, was da drohe, hätte er sie die Organisation des Fes-tes nicht übernehmen lassen.
Nach dem Vorfall wurde der »Initiativkreis« gegründet. Regelmäßig berät er, was im Ort gegen Rechtsextremismus unternommen werden kann. Dass das Gremium, das manche im Ort als »Peinlichkeit« abtun, Wirkung entfaltet, kann Harwig jedoch nicht ausmachen. »Der Vorfall ist ein Tabuthema.« Am sichtbarsten wird dies beim abendlichen Bier, wo auch die Täter mit dabei sind. »Da stehen alle am Tisch und reden.« Nur ein Thema wird ausgespart.
Harwig war 50 Jahre lang Mitglied seiner Partei – erst der SED, dann der PDS.. »Danach« – nach der Sonnenwendfeier – hat sich niemand mehr gemeldet von seinen Genossen. Irgendwann hat er in der Zeitung gelesen, dass man von ihm erwarte, die Partei zu verlassen. Harwig ist gegangen, angekommen ist er nirgends. So weiß er nicht mehr, was richtig ist in diesen Zeiten. Mit den Rechtsextremen reden oder nicht?
Andreas Holtz hat auf diese Frage eine klare Antwort. »Neonazis ins Dorfleben einzubinden, war und ist ein Fehler.« Holtz ist Gemeindepfarrer und hat wenig Zeit. Schon steht wieder ein Treffen mit der Jugendgerichtshilfe im Terminkalender. Es geht um Geld, der Lokale Aktionsplan Schönebeck soll angezapft werden. Ob es hilft, das Dorf bei der Aufarbeitung des rechtsextremen Vorfalls voranzubringen – Holtz weiß es nicht. Was er weiß, ist eher desillusionierend. Der 45-Jährige spricht vom »großen Schweigen in Pretzien«. Die Leute sagen, klagt Holtz, man müsse den Vorfall im Dorf alleine klären. »Aber genau das geschieht nicht.« Die Aufarbeitung bleibt Fremden überlassen.
Eine davon ist Claudia Luzar, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für demokratische Kultur in Berlin. Immer, wenn sich der Initiativkreis trifft, kommt sie aus der Bundeshauptstadt und unterstützt die Treffen mit Lösungsvorschlägen. »Zarte Pflänzchen« bei der Entwicklung einer demokratischen Kultur macht Claudia Luzar inzwischen in Pretzien aus. »Es ist doch ein Erfolg, dass sich hier Menschen zusammenfinden, um über das Erlebte zu sprechen.«
Gesprochen haben auch die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr in Pretzien. Einen ganzen Abend lang ging es um die Frage, ob einer der Rechtsradikalen aus dem Verein ausgeschlossen wird. Soll man oder soll man nicht? Was hat die Feuerwehr überhaupt mit der Sonnenwendfeier zu tun? Würdest du auch einen Ausländer retten? Am Ende hat man abgestimmt. Der junge Mann darf bleiben. Die Begründung für das Votum war so eindrucksvoll wie nüchtern: Die Satzung lässt eine andere Entscheidung nicht zu.

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