Chagall

Schweben über dem Abgrund

Von Georg Patzer

Eine Kuh in rotem, samtig schimmerndem Kostüm spielt schwebend auf einer blauen Geige, den Kopf hingebungsvoll nach oben gereckt. Eine tanzende Gruppe, eine Frau mit Hühnerleib und Krone auf dem Kopf, eine grüngesichtige Frau streckt einen Blumenstrauß zur Violinistin. Ein Fisch auf einem Teller, eine sich öffnende Tür, feiernde Menschen und ein schwebendes, ineinander verschlungenes Paar. Verspielt, tänzelnd, phantasievoll, so kennt man die Bilder von Marc Chagall, voll verrückter Einfälle und kindlicher Freude an der Aufhebung der Schwerkraft. Seine schwerelos schwebenden Hochzeitspaare zieren unzählige Poster und Hochzeitskarten, sind fast bis zum Kitsch verkommen.
In Baden-Baden kann man jetzt auch eine andere Seite des 1887 im weißrussischen Witebsk geborenen Malers entdecken: eine düster grundierte Version des Lebens. Das Museum Frieder Burda präsentiert bis Mitte August mit mehr als 100 Arbeiten einen Überblick über Chagalls gesamtes Schaffen. Seltene Leihgaben, darunter viele noch nie in Deutschland vorgestellte Werke, zeigen einen Maler, der so gar nichts von Tändelei hat. Das Schwebende, das Chagall zeitlebens gemalt hat, ist hier oft nahe am Abgrund, immer bedroht vom Absturz. In »Passah« von 1968 etwa (siehe Abbildung) streckt eine gelbgesichtige Kuh ihren Kopf aus dem Nichts ins Bild, ein paar düstere Häuser ducken sich in den schwarzen Schnee der Frühe, ein paar Männer trauen sich kaum aus der Dunkelheit, ein schwingend gleitender Engel verdreht die Arme verzweiflungsvoll und reckt den nackten Hintern ins Bild, das gelbe Gesicht zur Kuh gedreht. Schief kippen die Häuser, schüchtern leuchtet eine Flasche Wein, am Horizont knäueln sich mitternächtliche Wolken über angedeuteten Häusern. Eine rote Fläche, in Rundungen zerbrochen, ein Flecken Grün hängen hinter und über dem Ganzen, selbst die runde Sonne und der runde Mond sind von Nebel verdüstert. Kein heiterer Seder, keine Zukunftsvision von der Ankunft des Messias. Zwischen den Dächern lauert zwar, ganz klein und kaum zu erkennen, noch ein Engel. Doch ob er Gutes bringt, weiß man nicht. »Passah« setzt die jüdische Erfahrung des 20. Jahrhunderts ins Bild.
Marc Chagall war ein jüdischer Maler, dessen Thema zeitlebens das Jüdische war. Als Moishe Zakharovich Shagalov wuchs er im Schtetl auf. In vielen seiner Arbeiten hat Chagall dieser Welt ein Denkmal gesetzt, so in dem wunderschön rotleuchtenden Bild »Der rote Jude« von 1915: Da thront ein jüdischer Mann, mit weißgrauen Falten und leuchtendrotem Bart vor einer halbabstrakten Häuserwand. Hebräische Schriftzeichen bilden eine aufge- hende gelbe Sonne oder einen halbversunkenen Heiligenschein, eine weiße und die grüne Hand liegen fest auf den Knien.
Das Schtetl war der eine prägende Einfluß Chagalls. Der andere war die Oktoberrevolution 1917. Aus dem französischen Exil kehrte er nach Witebsk zurück, wurde zum Kommissar der Schönen Künste des Bezirks ernannt und gründete eine Kunstakademie, an der auch El Lissitzky und Kasimir Malewitsch unterrichteten.
Religiosität und Kommunismus verbinden sich in manchen Bildern. In einer Skizze zu dem Gemälde »Die Revolution« von 1937 macht Lenin einen Handstand, die christliche Muttergottes steht daneben, ein Engel schwebt schalmeienblasend durchs Blau, Proletarier schwingen ihre roten Fahnen. Auch der wohl größte Schatz der Ausstellung, die Malereien für das Jüdische Theater in Moskau, die Chagall 1920 für die Bühne und für den Zuschauerraum anfertigte, sind eine Synthese aus Revolution und Chassidismus. Der Künstler malte einen grandiosen Bilderbogen, einen Kosmos im Kleinen, mit politischen Anspielungen, witzigen Geschichten und augenzwinkernden Details, die den Betrachter lange beschäftigen können. Da sieht man Gaukler, Artisten, Musiker, Kellner, Regenschirme, Hühner, Kühe – das ganze Welttheater. Und kleine ironische Hinweise: Der Kopf eines Musikers löst sich von seinem Körper, ein Maler mit der Palette in der Hand wird getragen wie eine Torarolle, und in der rechten unteren Ecke sieht man neben einem applaudierenden Zuschauer einen anderen, der in die Ecke pinkelt. Alles tanzt, alles steht Kopf, alles zerfällt in Freude, schwebt und dreht sich: Es ist ein einziger großer freudiger Aufbruch.
Marc Chagall war ein eigenständiger Maler, der keiner Schule einzuordnen ist, der alle künstlerischen »Ismen« in sich aufgesogen und daraus etwas neues, eigenes gemacht hat. Ein blaues Haus, das in die Ferne strahlt wie ein Gemälde von van Gogh; eine kraftvolle jüdische Malweise, die selbst Jesus noch als Symbol für das leidende jüdische Volk zu integrieren weiß; die poetisch einfachen Illustrationen zu La Fontaines Fabeln und zu Daphnis und Chloe; nicht zuletzt Chagalls satte, düstere Bibelgemälde: Da ist selbst die Übergabe der Tafeln an Moses kein Freudentanz mehr, kein fröhlicher Beginn einer neuen Religion, sondern sie schält sich bedrohlich aus dem Grau und Schwarz heraus, in dem selbst göttlichen Strahlen sich nur mühsam behaupten können.
Der Betrachter nimmt aus dieser Ausstellung die Erkenntnis mit, daß man Marc Chagall allzu leicht unterschätzen kann. Die Leichtigkeit, in der seine Liebenden über allem schweben, ist hart erarbeitet, mit Leiden und Enttäuschungen. Hinter und unter dem leichten, tändelnd Tän- zerischen steht ein Abgrund an erlebtem Grauen, aber auch an wuchtig-trotziger Selbstbehauptung. Gerade das macht Marc Chagall, der 1985 98jährig im südfranzösischen Exil starb, zu dem jüdischen Maler seines Jahrhunderts.

»Chagall in neuem Licht«. Bis 18. Oktober.
Museum Frieder Burda Baden-Baden.
www.museum-frieder-burda.de

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