tanzkultur

Schicksalsmelodie

Lloica Czackis hat eine Mezzo-Sopranstimme, und ihr Klang passt zum dramatischen Arrangement von Violine und Klavier. Die hoch gewachsene, dunkelhaarige Frau singt Tango. Und doch ist der Klang ungewöhnlich, sind die Lieder ein wenig fremd. »Wie Jiddisch und Tango zusammenkommen? Ganz einfach«, sagt Czackis mit einem Lachen im Gesicht und nimmt an einem runden Tisch im hinteren Teil eines jener typischen Großraumcafés Platz, wie sie zu Hunderten die breiten Straßen von Buenos Aires säumen. Auch wenn es hier, an der Avenida Santa Fé, keinen Platz mehr für den verschmutzten und irgendwie heimeligen Charme gibt, den man Buenos Aires gerne nachsagt. Vor den Fenstern des Cafés drängt auf unübersichtlichen Fahr-
bahnen der Freitagnachmittags-Verkehr vorbei.
Die Haare im Nacken zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden, erzählt die junge Frau, wie sie eher zufällig vor 35 Jahren bei Karlsruhe als Tochter bonarenser Eltern geboren wurde. Gemeinsam mit der Amerikanerin Jenny Lewison war sie die erste Sängerin, die Tangoabende auf Jiddisch gestaltete. »Natürlich, wenn man Jiddisch und Tango hört, klingt das zunächst einmal unwahrscheinlich. Aber es hat mit den Lbensbedingungen der Juden zu tun, die noch Jiddisch sprachen«, erklärt Czackis.

Shpil zhe mir a tango oys in yidish, Shpil zhe mir a tango oys fun pleytim,
Zol dos zayn misnagdish, oder kh’sidish,
Fun dem folk tsezeytn un tseshpreytn,Az di bobele aleyn zol kenen dos
farshteyn
Az kinder, groys un kleyn, zoln kenen dos farshteyn, Un take a tentsele geyn. Un take a tentsele geyn!

Der Tango ist der älteste Beitrag Argentiniens zur Weltkultur. Ursprünglich aus einer Mischung von Armut, Auswanderung, Sehnsucht, Prostitution und Kriminalität entstanden, haben sich über die Jahrzehnte der Tanz und die Musik stark verändert. Im Tango vermengen sich die musikalischen Traditionen der Einwanderermilieus von Buenos Aires oder Montevideo und osteuropäische Volkslieder, folkloristische Tänze wie beispielsweise Candombe mit Gaucho-Traditionen, die die Nachkommen von Spaniern und Indios in Südamerika pflegten. Auch wenn Aufnahmen einiger Tangostücke bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Europa Furore machten, verbreitete sich der Tanz vor allem in der Zeit zwischen den Kriegen. Tango ging auf die Reise, kam nach Paris, London oder Berlin und gehörte dort schon bald zum gängigen Musikrepertoire. Etwas später erreichte er auch Städte wie Warschau, Vilnius oder Moskau, hielt sich dort lange als Ausdruck von Exotik. In den 20er- und 30er-Jahren adaptierten Polen und Russen die Musik und schrieben Texte auf Jiddisch dazu. Am Ende war sie nicht weit entfernt vom Klesmer und den alten Volksliedern, die Instrumente die gleichen und die Gelegenheit dieselbe: Man saß zusammen, sang, tanzte und lachte, auf dass die Sorgen etwas kleiner würden.

auf der flucht Mit ihrer Arbeit am jiddischen Tango hat Lloica Czackis ein wenig Licht auf eines der noch unbekannten Kapitel dieser Tanzkultur geworfen. »Die Juden und der Tango blickten sich zum ersten Mal in jenen Bordellen ins Angesicht, die von der Varsovia und später in Zwi Migdal umbenannten größten Zuhälter-Organisation am Rio de Plata betrieben wurden«, schrieb Julio Nudler (1941 bis 2005), der bedeutendste Chronist des jüdischen Tangos, über den Beginn des letzten Jahrhunderts. Vier Jahrzehnte später lebten in Buenos Aires einige Hunderttausend Juden, die mehrheitlich aus Osteuropa und Russland stammten. Viele der vor den Nazis geflohenen deutschen Juden erinnern sich bis heute daran, dass sie in den Gängen und Fluren der Hilfsorganisationen zum ersten Mal jiddischen Unterhaltungen lauschten. Die Kulturgrenzen des Judentums schrieben sich zwar auch am La-Plata-Fluss weiter. Aber nun lebten die vorher durch Nationalgrenzen getrennten Gruppen in einer Stadt. Und als sich mit ihnen auch ihre unterschiedlichen Kulturen vermengten, wurde Tango – der selbst nichts anderes als eine Mischung war – neben Klesmer auch auf Jiddisch zum Verständigungsinstrument. »Was selbst gemischt ist«, bemerkt Czackis, »funktionierte auch unter den zusammengewürfelten Milieus.«

Shpil, shpil, klezmerl, shpil
Vi a yidish harts hot gefil,
Shpil, shpil mir a tangele, oy, shpil,
Shpil, ikh bet dikh, mit neshome, mit gefil!

Der jiddische Tango sang früh von verwandten Schicksalen: von den Schwierigkeiten der Liebe, den verlassenen Männern und der Hoffnung – wenn schon nicht auf eine bessere Zukunft, so doch wenigstens auf die Nacht mit einer begehrenswerten Frau. Unter dem Nationalsozialismus kommen andere Töne hinzu. Etliche der jetzt entstehenden Texte klagen über das Leben in den Ghettos von Warschau und Krakau, die Schrecken von Bialystok und Lodz, erzählen von den Todeslagern und von einer Welt, die nicht hin- sehen wollte.

Shpil zhe mir a tango, nor nisht arish,
Zol dos zayn nisht arish, nisht barbarish,
Az di sonim zoln zen, az ikh nokh tantsn ken,
Un take a tentsele mit bren!

Ortswechsel: Ein karger Raum, mehr breit als hoch, mit dem gewölbten Parkett eines Theaters als Rückwand. »Ich habe viel Zeit damit verbracht, Bandoneon zu spielen, während meine Großmutter jiddische Lieder sang«, erzählt César Lerner. Am Abend spielt er mit seinem kongenialen Partner Marcelo Mogulevski hier im breiten Foyer des Teatro San Martin. Abgenutzter Marmor, auf den Messinggriffen finden sich die Spuren der Zeit. Jetzt, um elf Uhr abends, ist die Theaterbuchhandlung geschlossen. Lerner und Mogulevski treten zum Abschluss der Saison noch einmal auf, Buenos Aires bereitet sich auf die Ferien vor. In der Sommerpause bleibt nur in der Stadt, wer nicht weg kann oder mit Tourismus sein Einkommen bestreiten muss. Das Duo Lerner/Mogulevski sitzt hinter allerlei Instrumenten, ein sehr gemischtes Publikum auf dem rauen Teppich davor. Die furiose Mischung aus Klesmer, Tango, Jazz und Populärmusik, die surrealen Klangfolgen von Mogulevskis zahlreichen Blasinstrumenten, die rasanten Rhythmenwechsel sind weit entfernt von dem zu erwartenden Pathos eines Tangoabends. Viele Zuhörer blicken versonnen und träumerisch vor sich hin, wippen rhythmisch mit den Fußspitzen.

ehrgeizige eltern Tango sei auch ein Stück Assimilation, sagt Lerner, der nebenher Trommelkurse in einer Entziehungsklinik für suchtkranke Jugendliche gibt. Damit knüpft er an eine These Julio Nudlers an, der in einem Aufsatz schrieb, dass der Tango auch ein Auflösen jüdischer Identität bedeute. Natürlich hätten Juden auch nach Buenos Aires ihre klassischen Instrumente mitgebracht, die Violine und das Klavier. Allerdings nutzten viele von ihnen die Gelegenheit, sich in den Kaffeehausorchestern zu verbergen und im Hintergrund zu halten. Oder, wenn sie als Arrangeure, Dirigenten oder Sänger dem Bühnenglanz in vorderster Reihe ausgesetzt waren, dann verwandelten sie ihre Namen in unverfängliches Spanisch. Nicht zuletzt löste sich im Tango eine jüngere Generation vom musikalischen Ehrgeiz der eingewanderten Eltern: Wer, so Nudler, seine Violine dem Tango verpflichtete, hatte nicht mehr das berühmte Theatro Colon und die Weltkarriere mit der klassischen Musik im Sinn. »Der Tango war die Musik der Einwanderer und der unteren Schichten, hier haben sich die Menschen über Ländergrenzen hinweg, ihre Stilrichtungen und die klassischen Musikstücke ihrer Folklore verbunden.«
César Lerner fasst sich an den Rippenansatz, dort, wo der Solarplexus eine sensible Offenbarung für Gefühle allerlei Art bietet. Seine Großeltern kamen aus Bessarabien und aus Lodz. Tango und Klesmer, wenngleich beinahe komplementär im Gestus und in der emotionalen Grundlage, hatten sich früh in seiner Familie alchimiert. »Für das Messianische gab es die Synagoge am Wochenende. Aber das tägliche Brot war die Musik.« Lerners Vater, so erinnert er sich, habe Tangos im Auto gesungen, voller Inbrunst und unglaublich traurig.
Und doch ist der Tango von heute ein anderer. Fast schon so etwas wie sozial entkernte Musik, eine Sammlung pathetischer Gesten mit konservativem Bezug zur Vergangenheit. Überall auf der Welt versuchen junge Paare, die sehnsüchtige Tanzmusik, die sexuelle Fantasie, die unerfüllten Träume in Grundkursen und Fortgeschrittenen-Workshops zu erlernen. Darüber ist er zur Frontalmusik geworden, bemerkt César Lerner ein wenig traurig. In Buenos Aires besteht das Publikum oft aus zwar lernwilligen, aber in der Hüfte zu wackeligen Touristen. Sie halten eine Kulturindustrie am Leben, indem sie mitmachen oder bei überteuertem Essen am Tisch des renovierten Carlos-Gardel-Theaters sitzen. Die Vertriebenen und Eingewanderten treffen sich längst woanders. Ihre Musik trägt schnellere, härtere Rhythmen. Und doch sind vielleicht Sehnsucht und Not dieselbe.
Ist der Tango deshalb eine konservative Rückbesinnung? Lloica Czackis, die mit Mann und Kind im Elsass wohnt, überlegt eine Weile. Sie nimmt mit ihren Konzerten, die ebenso hinreißend wie akademisch geprägt sind, eine gewisse Sonderstellung ein. Denn sie sucht die Lieder da- für aus den unterschiedlichsten Quellen zusammen. Aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es nur einzelne Tangostücke auf Jiddisch, die im Lauf eines langen Abends zwischen die Klassiker gestreut wurden. »Ich glaube, wir suchen noch etwas in der Musik«, sagt sie und blickt versonnen auf die belebte Straße, in der der Lärm des Tages längst die Erinnerung an die sehnsüchtigen Rhythmen der Nacht verdrängt hat. Foto: bocatango

Ankara

Türkei bricht Handelsbeziehungen zu Israel ab

Der Handel der Türkei mit Israel belief sich im Jahr 2023 noch auf mehrere Milliarden US-Dollar. Nun bricht die Türkei alle Handelsbeziehungen zu Israel ab. Doch es ist nicht die einzige Maßnahme

 29.08.2025

Geburtstag

Popstar der Klassik: Geiger Itzhak Perlman wird 80

»Sesamstraße«, »Schindlers Liste« und alle großen Konzertsäle der Welt natürlich sowieso: Der Geiger gehört zu den ganz großen Stars der Klassik. Jetzt wird er 80 - und macht weiter

von Christina Horsten  29.08.2025

Bonn

Experte: Opfer mit Bewältigung von Rechtsterror nicht alleinlassen

Der erste NSU-Mord liegt beinahe 25 Jahre zurück. Angehörige der Opfer fordern mehr Aufmerksamkeit - und angemessenes Gedenken, wenn es um rechtsextreme Gewalt geht. Fachleute sehen unterschiedliche Entwicklungen

 29.08.2025

Frankfurt am Main

Michel Friedman will nicht für TikTok tanzen

Es handle sich um eine Plattform, die primär Propaganda und Lügen verbreite, sagt der Publizist

 28.08.2025

Geburtstag

Holocaust-Überlebende Renate Aris wird 90

Aris war lange stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz und Präsidiumsmitglied des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden. 1999 gründete sie den ersten jüdischen Frauenverein in den ostdeutschen Bundesländern

 25.08.2025

Nahost

Alabali Radovan besucht Palästinensergebiete: Hilfe im Fokus

Die Entwicklungsministerin will in Tel Aviv diese Woche Angehörige von Geiseln treffen und das Westjordanland besuchen

 25.08.2025

Würzburg

AfD-Mann Halemba wegen Volksverhetzung vor Gericht

Die Staatsanwaltschaft wirft dem bayerischen AfD-Landtagsabgeordneten Halemba auch Geldwäsche und Nötigung vor

von Angelika Resenhoeft, Michael Donhauser  21.08.2025

Ehrung

Ravensburger-Stiftung ehrt Bildungsstätte Anne Frank mit Preis

Es werde eine herausragende Bildungsinitiative gewürdigt, teilte die Stiftung mit

 20.08.2025

Athen

Israelische Firma übernimmt griechischen Rüstungsbauer

Griechenlands größter Hersteller von Militärfahrzeugen ist nun komplett in israelischer Hand. Die strategische Zusammenarbeit im Verteidigungssektor wird damit weiter vertieft

 20.08.2025