Nachruf

Schalom, lieber Paul, Schalom

»Merke dir diesen jungen Mann, der hat Zukunft«, sagte Karl Marx, Herausgeber der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung 1958 zu mir in den Redaktionsräumen Zietenstraße 50, Düsseldorf. Der »junge Mann«, heute wohl Azubi (Auszubil- dener) genannt, war Paul Spiegel. Zwanzig Jahre jung, freundlich, höflich, neugierig –shake hands. Es gibt Freundschaften, die keiner Vorverständigung bedürfen, diese war so eine. Sie sollte 48 Jahre dauern, bis zu seinem Tod am 30. April.
Seinen Tod will ich, den kann ich noch nicht glauben. Zu sein ohne Paul? Ohne die Möglichkeit, ihn anzurufen, ohne fragen zu können »Bist du in Ordnung«, oder »Hast du schon von der neuesten antisemitischen Schandtat gehört?« Wie soll das gehen, wie nur? Wo fände man einen zweiten Menschen, mit dem man fast ein halbes Jahrhundert kommunizierte, ohne daß es je auch nur zu einem Anflug von Streit, Spannung oder gar einer Verletzung gekommen wäre? Und das nicht etwa, weil wir solchen Situationen auswichen, sie krampfhaft mieden, sondern weil die Übereinstimmung in allen essentiellen Fragen und Problemen elementar war – Fragen und Probleme von Überlebenden des Holocaust. In der Riege jüdischer Führung wird Paul Spiegel der letzte seiner Gattung gewesen sein.
Auch gegenüber Vertrauten ist er mit dem eigenen Schicksal und dem seiner Familie nur langsam herausgerückt. Am 31. Dezember 1937 im westfälischen Warendorf geboren, war er zu klein, um die Mißhandlung des Vaters, Hugo Spiegel, durch SA-Horden während der Reichspogromnacht im November 1938 bewußt begreifen zu können. So wenig, wie als Zweijähriger die Flucht von Eltern und Schwester Rosa nach Belgien. Was muß vorgegangen sein im Kopf dieses jüdischen Kindes, das sein Leben fern von elterlicher Obhut und bald getrennt von der verhafteten und später ermordeten Schwester, mitfühlenden Bauern in der Nähe des wallonischen Namur zu verdanken hatte? Was war angerichtet in dem Achtjährigen,
als der Krieg zu Ende ging und der Vater nach einer KZ-Odyssee über Buchenwald, Auschwitz und Dachau dennoch zurückkehrte? In das Land der »Monster« und der »Riesen«, die der kleine Junge doch nur als furchteinflößende Besatzer kennengelernt hatte? Ich sehe noch, wie sich seine Augen in dem sensiblen Gesicht verengten, wenn er sprach von einer Zeit, die erst unbewußt in ihm gearbeitet hatte, bis er die volle Tragödie begriff, den Tod der Schwester und das eigene Wunder, am Leben geblieben zu sein. Welch ein Weg von dort bis zu den Unisono-Nachrufen fast aller deutschen Medien und hochgestellten Persönlichkeiten auf die »moralische Instanz Paul Spiegel«, welch ein Weg!
Beim Journalismus ist er nicht geblieben, sondern eröffnete nach mehreren Berufsetappen 1986 in Düsseldorf eine später florierende Künstleragentur. Jetzt kam ihm etwas zugute, eine Fähigkeit, wie sie so nur wenige haben: Menschen für sich einzunehmen. Aber die wird sich nicht auf das Professionelle, das Berufliche beschränken, sie wird erst lokale, dann regionale, dann nationale Dimensionen annehmen. Ein Magnetismus wie im Selbstlauf.
Ab 1967 im Rat der Düsseldorfer Gemeinde, 1984 ihr Vorsitzender, 1993 einer der zwei stellvertretenden Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Januar 2000, nach dem Tod von Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats, dann Wiederwahl zwei Jahre später. Seine Freunde sorgten sich, auch ich. Hatte er doch große Vorgänger – den legendären Juristen und Publizisten Hendrik van Dam, Heinz Galinski, Ignatz Bubis. Wenn Paul mich damals anrief, hatte ich, zugegeben, Schwierigkeiten, ihn zu ermutigen – für ein Amt, das seinen Vorgänger schwer belastet, ja, kaputtgemacht hatte. Allein die Probleme, die sich aus der Zuwanderung aus dem Osten ergaben, eine Dynamik, die zwar Hitlers Traum vom »judenfreien Deutschland« zunichte machte, aber doch ein ganz neues Zeitalter jüdischer Geschichte auf deutschem Boden beschworen hatte. Und das nun verwalten? Aber dann haben wir miterlebt, wie ein von seinem Amt Geforderter auf geradezu klassische Weise Statur gewann; wie er zu einem Eroberer von öffentlichem Vertrauen, öffentlicher Achtung, öffentlicher Zustimmung wurde; wie sich ein Jude das vorher hierzulande nahezu Unmögliche verschaffte, nämlich den Respekt selbst solcher Kreise, die Juden eher reserviert gegenüberstanden.
Es war frappierend anzusehen, welche Wirkung eine von Grund auf ehrliche Natur an hervorragender Stelle auf ihre Zeitgenossen haben, wie ansteckend das persönliche Beispiel sein kann, das sich hier so unprätentiös und so ausdauernd darbot: Paul Spiegel hat sich um die jüdische Sache verdient gemacht. In der deutschen Nachkriegsgeschichte hat es keinen Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft gegeben, der mehr Sympathien erwarb als er. Und das bei völliger Prinzipientreue, was heißt, daß er keinem nach dem Munde geredet und die Möllemanns, Hohmanns und andere Unheilbringer attackiert hat, wann und wo immer es nötig wurde.
Bereitschaft zuzuhören, auszugleichen hatte er in hohem Maße, Angst vor Thronen und Altären nicht. Sein Kompaß waren unverrückbar die, die den Völkermord an den Juden im deutsch besetzten Europa nicht überlebt hatten. Immer wieder hat er Glauben an die Zukunft der Demokratie bekundet und mit Genugtuung und Freude den Staatsvertrag zwischen Deutschland und dem Zentralrat der Juden unterschrieben.
Und doch hat ihm die Hartnäckigkeit, mit der sich Denk- und Verhaltensweisen aus der Naziepoche bis in die Gegenwart gehalten haben, immer spürbarer zugesetzt. Nicht, daß er fürchtete, die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat könnte dadurch ausgehebelt werden. Nur begann die Schmerzgrenze für ihn viel früher. Unser letztes Gespräch, von dem weder er noch ich wissen konnten, daß es das letzte sein würde, hatte das noch einmal bestätigt.
Er äußerte darin eine schwere, eine spezifische Sorge: Daß sich die rechtsextremistische Szene als zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus im Gesellschaftskörper der Bundesrepublik festgesetzt habe, und daß bei der schwächlichen Haltung der Republik gegenüber ihren Feinden eher mit deren Terraingewinn als einem Terrainverlust gerechnet werden könnte. Wobei die finanziellen und mentalen Hintermänner und Mäzene noch gefährlicher seien als die Gewalttäter an der Front des Antisemitismus und des Fremdenhasses. Diese Sorge ist auch die meine. Mit ihm teilen kann ich sie nun nicht mehr. Aber unser Zwiegespräch wird bleiben.
Er hat in diesen 48 Jahren vieles gesagt, was mich berührte, am tiefsten aber ein Bekenntnis unter vier Augen zu Gisèle, seiner Frau, das ich hier an sie weitergebe; »Sie ist«, so sagte er zu mir, »das Glück und der Reichtum meines Lebens.« Das war das gleiche, was ich lange zuvor über meine 1984 verstorbene Frau Helga gesagt hatte, wortwörtlich.
Du, Freund, hast mein Dasein bereichert. Schalom, lieber Paul, Schalom!

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