Erklärungsversuch

Richtungsweisend

von Olivier Guez

Sich mit seiner jüdischen Identität auseinanderzusetzen, ist eine gefährliche, wenn nicht gar unmögliche Übung. Der Literaturwissenschaftler George Steiner hat das treffend fomuliert: »Das Verhältnis eines Juden zu seiner Identität kann bisweilen so undurchsichtig, so belastend und so voller historischer, sozialer und psychologischer Vieldeutigkeiten sein, dass sich dadurch das Wesen des Judentums selbst de- finiert.« Und geht es um Europa, um europäisch-jüdische Identität heute, wird das Fragen »Wer sind wir und was sind wir?« angesichts nationaler Traditionen und Kulturen noch viel heikler. Ein Gynäkologe tunesischer Herkunft aus Straßburg und eine junge Frau aus Odessa haben im Zweifel nicht viel mehr gemeinsam als eine »jüdische Identität«.
Wer sind wir Juden in Europa? Vor allem Wundergeheilte. Das gilt von der Spitze der Bretagne bis zum Ural. Im Laufe der vergangenen 2.000 Jahre stand die christliche Geschichte den Juden auf dem Kontinent mal mehr, mal weniger feindselig gegenüber. Trotz der Kreuzzüge, der Inquisition, der Pogrome, der Hölle der Vernichtungslager leben Juden überall in Europa. Im Westen wurden die Gemeinschaften durch viele Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten verstärkt, in Mitteleuropa durch die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Und selbst im Osten geht, wenn auch bescheiden und noch verschleiert, langsam die Sonne auf. Die jüdischen Gemeinden dort sind nicht groß, aber nach Jahrzehnten Kommunismus gibt es eine Art spiritueller und kultureller Erneuerung.
Juden sind heute in allen Staaten Europas mit allen Rechten ausgestattete, freie und gleiche Bürger. Eine Premiere in der bewegten Geschichte des Kontinents. Der europäische Jude ist nicht mehr hin- und hergerissen zwischen Paria und Parvenü. Er muss nicht mehr verzweifelt versuchen, sich anzupassen. Er braucht sein Judentum nicht mehr zu verbergen um zu beweisen, dass er ein guter Staatsbürger ist. Niemand würde mehr daran denken, seine hebräischen Bücher in der dritten Reihe seiner Bibliothek zu verstecken, um sein Deutschtum hervorzuheben, wie es der Vater von Gershom Scholem tat. Das Europa nach dem Holocaust bleibt verschont von der Gestalt des schamvollen Juden, der seinen Selbsthass kultiviert.
Die europäischen Juden entwickeln sich zwischen zwei klar definierten Grenzen: Auf der einen Seite die Ultraorthodoxen, die von der Tora und für die Tora leben, zurückgezogen vom Treiben der Welt. Auf der anderen Seite die »Abtrünnigen«, die mit dem Althergebrachten gebrochen haben und ohne Glauben und kulturelle Verbundenheit mit dem Judentum leben. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein breiter Streifen, in dem sich Traditionalisten, Reformer, Liberale und Atheisten frei bewegen. Gemeinsam haben sie Kultur, Humor, Traditionen, Erzählungen, Mythen und eine gewisse Verbundenheit mit dem Buch, dem »Stammeszeichen«.
Sie alle eint zudem einiges, das nicht europäisch ist im eigentlichen Sinne: die Erinnerung an die Schoa, eine starke, mehr oder weniger kritische Bindung an Israel sowie Wachsamkeit gegenüber dem Antisemitismus und seinen unscharfen Grenzen zum Antizionismus. Hinzu kommen eine hochgradige (zwar verständliche, jedoch auch schädliche) Empfindlichkeit und die »Angst davor, Angst zu haben« in Europa, wo die Gespenster der Vergangenheit nie in weiter Ferne wandeln. Sie sind Juden, aber nicht nur das. Sie sind Franzosen, Deutsche, Italiener oder Ungarn, aber nicht nur das allein: Sie sind Europäer und bewohnen einen multikulturellen Kontinent, auf dem sich die flexiblen und miteinander verflochtenen Identitäten überlagern.
Bis auf einige wenige Ausnahmen im Osten besteht das heutige Europa aus offenen, fließenden und laizistischen Gesellschaften, in denen Menschen und Waren im Geiste einer relativen Toleranz frei verkehren. Neben der in den privaten Raum verbannten Ausübung von Religion sind die Teilhabe am modernen europäischen Projekt und dessen Verteidigung der Schlüssel zu einer zeitgenössischen europäisch-jüdischen Identität. Das Gleichgewicht dieses offenen Europas ist prekär, seine Grundlagen sind fragil. Und es hat erklärte Feinde, in erster Linie radikale Islamisten und Nationalisten. Als mit allen Rechten des neuen Europas ausgestattete Bürger haben die europäischen Juden auch Pflichten. Sie dürfen dem gemeinschaftlichen und selbstbezogenen Rückzug, der Versuchung einer freiwilligen »Ghettoisierung« nicht nachgeben. Denn sie steht einer modernen europäisch-jüdischen Identität entgegen. Andererseits darf bei aller Weltgewandtheit die »jüdische Konstante« nicht vergessen oder gar verdrängt werden. Nur so behält man eine Erdung und kann sich der Frage stellen: Wer und was sind wir?

Der Autor, 1974 in Straßburg geboren, ist Publizist und lebt in Berlin.

Sydney

Jewish organizations decry the »scourge« of antisemitism

This time the focus is on Australia. It is hosting a conference of the international Jewish initiative »J7.« The group is presenting figures on Jew-hatred on the continent – and speaks of historic highs.

von Leticia Witte  03.12.2025

Kino

Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  02.12.2025

Thüringen

Verfassungsschutz-Chef schätzt AfD-Jugend als rechtsextrem ein

Die Mitglieder der »Generation Deutschland« würden in ihren ersten Auftritten »weder eine Mäßigung noch eine Distanzierung oder gar Wandlung« zeigen, so Kramer

 02.12.2025

Tel Aviv-Jaffa

Shimon-Peres-Preis wird erstmals in Israel verliehen

60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind der Anlass: Zum ersten Mal wird der Shimon-Peres-Preis für gemeinsame demokratische Vorhaben in Israel feierlich übergeben

von Alexander Riedel  01.12.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Ayala Goldmann  23.11.2025

TV-Tipp

Oliver Masucci brilliert in dem Mehrteiler »Herrhausen - Der Herr des Geldes«

Biografischer Mehrteiler über Bankier Alfred Herrhausen

von Jan Lehr  17.11.2025

Amsterdam

Chanukka-Konzert im Concertgebouw kann doch stattfinden

Der israelische Kantor Shai Abramson kann doch am 14. Dezember im Amsterdamer Konzerthaus auftreten - allerdings nur bei zusätzlich anberaumten Konzerten für geladene Gäste

 13.11.2025