Eduard Bernstein

Prophet und Revisionist

von Ludger Heid

Schon sein Name regte die antisemitische Fantasie seiner Umwelt an. Bernstein – das klang unverkennbar jüdisch. Als führender Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung, als vielbeachteter politischer Publizist, als Parlamentarier und – vor allem – als bedeutendster Repräsentant und theoretischer Kopf des »revisionistischen« Sozialismus hat Eduard Bernstein (1850-1932) weit über Deutschlands Grenzen hinaus Beachtung und Anerkennung, aber auch Ablehnung erfahren. Mehr als jeder andere Abgeordnete hat er in Diskussionen über das jüdische »Problem« eingegriffen. Seine Schriften zeigen einen Sozialisten jüdischer Herkunft, der lange nach seinem Standpunkt suchte, zunächst die Assimilation verfocht und sich dann zionistischen Positionen annäherte.
Es ging ihm vor allem darum, antisemitische Angriffe abzuwehren – der Kampf gegen die »dummen Kerls«. Dabei agierte er merkwürdig distanziert, nicht als Betroffener, sondern immer vom »Klassenstandpunkt« aus argumentierend. Diejenigen, auf die der Antisemitismus zielte, das waren für ihn die anderen Juden, er selbst fühlte sich von einem assimilatorischen Standpunkt aus nicht gemeint.
Eduard Bernstein, am 6. Januar 1850 in Berlin geboren, war das siebte Kind des Lokomotivführers Jakob Bernstein und seiner Frau Johanna. »Mindestens« 16 Kinder hatte das Ehepaar Bernstein – der einzige Reichtum, den sein Vater anhäufen konnte, wie er bekannte. Ungewöhnlich war der Beruf des Vaters. Zunächst Blechschmied, nahm er als Beamter der Berlin-Anhaltischen Staatseisenbahn eine quasi hoheitliche Aufgabe wahr. Es hieß von ihm, er sei der erste Jude in Preußen gewesen, der ein solch obrigkeitsstaatliches Amt bekleidete.
Die Herkunft der Eltern war durch und durch jüdisch geprägt, der väterliche Stammbaum weist nach Polen auf eine Reihe von Rabbinern. Bernsteins Onkel war Aaron Bernstein, dem seiner Gelehrsamkeit wegen im Hause der Eltern mit Liebe und Verehrung begegnet wurde. Aaron Bernstein wurde der Familientradition gemäß Rabbiner, entfremdete sich jedoch dem Beruf und betätigte sich hauptberuflich erfolgreich als Schriftsteller. Ganz offensichtlich spielten jüdische Religion und Tradition in der Erziehung eine Rolle, sonst hätte Bernstein als erwachsener Mann nicht behaupten können, in jüngeren Jahren Hebräisch gelernt, gleichwohl vergessen zu haben, wie man es liest.
Erst ganz allmählich nahm der junge Eduard wahr, dass er Jude war, und auch erst dann, als ihm andere Jungen auf der Straße »Jude« nachriefen. Der Beruf des Vaters und der Umstand, dass die Bernsteins den Sonntag achteten, das Weihnachtsfest mehr als deutsches denn als christliches Fest feierten und sich über die jüdischen Speisegesetze hinwegsetzten, wirkten auf die nächste Umgebung durchaus integrativ; das Judentum wurde in der Familie nicht als etwas verstanden, das sie von den übrigen Deutschen trennte. Loyalität, Patriotismus, Akkulturation, das Reformjudentum und der politische Liberalismus, das waren die prägenden Faktoren des geistigen Umfelds, in dem Eduard Bernstein – halb als Gläubiger, halb als Skeptiker – aufwuchs. Nach eigenem Selbstverständnis war sich Bernstein seiner jüdischen Herkunft bewusst und spürte kein Bedürfnis, sie zu verleugnen. Mehr noch: Er ist immer Jude geblieben und war stolz darauf, von Juden abzustammen.
Chaim Weizmann wähnte Bernstein bereits im Sommer 1902 auf dem Weg zum Zionismus, nachdem er einige zionistische Aspirationen hatte erkennen lassen. »Ich sprach lange mit Bernstein (dem berühmten) und seiner Tochter in Berlin«, schrieb Weizmann seiner Braut und kam auf den Punkt: »Ich machte ihm Vorhaltungen, warum er für die Sache der Armenier und nicht die der Juden einträte.« Darauf habe Bernstein geantwortet: »Wenn ich jüdisches Gefühl hätte, ich wäre Zionist. Vielleicht kommt es.«
Dem erklärten Antizionisten Karl Kautsky war Bernsteins zionistischer Flirt nicht entgangen, was ihn zu der sarkastischen Bemerkung veranlasste: »Nichts wäre schöner, als wenn Bernstein sich zum Zionismus revidierte, und wenn ich dabei mithelfen könnte, möchte ich es tun. Die Zionisten brauchen einen Propheten, Bernstein braucht Gläubige für sein Prophetentum, und wir brauchen ihn nicht. Man sollte T. Herzl und Nordau auf die neue Kraft aufmerksam machen.«
Für die Ziele der Poale Zion, deren Programm aus einer Synthese aus Sozialismus und Zionismus bestand, konnte Bernstein sich durchaus erwärmen. In einem Interview, das er zu seinem 80. Geburtstag am 6. Januar 1930 der CV-Zeitung gab, sagte Bernstein: »Erst in allerletzter Zeit hatte ich mit Karl Kautsky wegen des Zionismus eine Auseinandersetzung. Ich habe nämlich den Standpunkt vertreten, dass die Juden eine Heimstätte haben müssten, dass diese Heimstätte aber niemals nationalistisch und völkisch aufgezogen werden dürfe. Ich wünsche eine Heimstätte, die wirklich auch eine Heimstätte sei und der jeder nationalistische Beigeschmack fehlt.« Eine Urkunde der »Liga für das arbeitende Palästina« zu seinem 81. Geburtstag preist Bernstein als »treuen Freund des jüdischen Arbeiterwerks in Palästina«. Keine Höflichkeitsfloskel, sondern der Dank für einen Mann, der über ein Jahrzehnt auf vielfältige Weise seine Stimme für die proletarischen Ostjuden erhoben hatte.
Bernstein, der formal der Jüdischen Gemeinde den Rücken gekehrt hatte, hat mit zunehmendem Alter zu seinen jüdischen Wurzeln zurückgefunden. Sozialist und radikaler Demokrat blieb er bis zu seinem Tod. Er starb vor 75 Jahren, gleichsam gemeinsam mit der Republik von Weimar, die er mit aus der Taufe gehoben hatte, am 18. Dezember 1932, drei Wochen vor seinem 83. Geburtstag. So blieb ihm erspart, miterleben zu müssen, dass weitere drei Wochen später Hitler die Macht ergriff.
60 Jahre lang war Bernstein Sozialdemokrat, 22 Jahre davon verbrachte er als Verfolgter des Bismarckschen Sozialistengesetzes im schweizerisch-englischen Exil. Auch insofern verkörperte er ein nicht untypisches deutsch-jüdisches Schicksal. In einem Nachruf im Berliner Tageblatt hieß es über den »Apostel in der deutschen Arbeiterbewegung«: »Wer den Mann mit dem Kopfe eines gütigen Rabbi in den letzten Jahren seiner parlamentarischen Tätigkeit sah, konnte kaum glauben, dass dieser Patriarch, der aus einer anderen Zeit in die Gegenwart hineinragte, ein sehr aktiver Kämpfer gewesen war, der um seines politischen Bekenntnisses willen Verfolgung und Ausweisung auf sich genommen hatte.«
Marx, Lassalle, Singer, Haase, Luxemburg und all die anderen waren soziale Demokraten, die aus jüdischen Häusern stammten und ihre Ideen und Identitäten in handelnde Parteipolitik eingebracht haben. 144 Jahre hat die sozialdemokratische Partei gebraucht oder sich Zeit gelassen, sich ihrer jüdischen Wurzeln zu erinnern. Auf dem Bundesparteitag der SPD im Oktober 2007 hat der explizite Bezug auf das Judentum als eine Grundlage der Sozialdemokratie endlich Eingang in das neue Grundsatzprogramm der Partei gefunden (vgl. Jüdische Allgemeine vom 18. Oktober). Bernstein hätte es gefreut.

Hamburg

Zehn Monate auf Bewährung nach mutmaßlich antisemitischem Angriff

Die 27-Jährige hatte ein Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft nach einer Vorlesung über antijüdische Gewalt attackiert

 28.04.2025

Fernsehen

Mit KI besser ermitteln?

Künstliche Intelligenz tut in Sekundenschnelle, wofür wir Menschen Stunden und Tage brauchen. Auch Ermittlungsarbeit bei der Polizei kann die KI. Aber will man das?

von Christiane Bosch  21.04.2025

Reaktionen

Europäische Rabbiner: Papst Franziskus engagierte sich für Frieden in der Welt

Rabbiner Pinchas Goldschmidt, der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, würdigt das verstorbene Oberhaupt der katholischen Kirche

 21.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Indischer Ozean

Malediven will Israelis die Einreise verbieten

Es ist nicht die erste Ankündigung dieser Art: Urlauber aus Israel sollen das Urlaubsparadies nicht mehr besuchen dürfen. Das muslimische Land will damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen.

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Spenden

Mazze als Mizwa

Mitarbeiter vom Zentralratsprojekt »Mitzvah Day« übergaben Gesäuertes an die Berliner Tafel

von Katrin Richter  10.04.2025

Jerusalem

Oberstes Gericht berät über Entlassung des Schin-Bet-Chefs

Die Entlassung von Ronen Bar löste Massenproteste in Israel aus. Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem »Mangel an Vertrauen«

 08.04.2025

Würdigung

Steinmeier gratuliert Ex-Botschafter Primor zum 90. Geburtstag

Er wurde vielfach ausgezeichnet und für seine Verdienste geehrt. Zu seinem 90. Geburtstag würdigt Bundespräsident Steinmeier Israels früheren Botschafter Avi Primor - und nennt ihn einen Vorreiter

von Birgit Wilke  07.04.2025