Be'eri

Nach dem 7. Oktober

Warnung: Dieser Text enthält verstörende Gewaltschilderungen. Bitte beachten Sie dies vor der Lektüre und gegenüber Minderjährigen.

Die Sonne scheint, als wir den Kibbuz Be’eri erreichen. Eine jener Oasen des Friedens im Süden Israels, die in der Vergangenheit zwar immer wieder durch palästinensischen Raketenbeschuss aus dem nur gut vier Kilometer entfernten Gaza heimgesucht wurden. Die sich ihre Harmonie, ihren Frieden und ihre Idylle aber dennoch bewahrt haben. Gehegt haben. Gepflegt haben. Bis zum Morgen des 7. Oktober 2023. Dem Tag, als der palästinensische Terror über den Süden Israels hereinbrach. Über Be’eri. Und über so viele andere Orte in der Umgebung.

Zurück ins Heute: Ruhig war es. Nur die Vögel zwitscherten. Und hier und da wogte der Wind durch die Bäume in der liebevoll gestalteten Oase. Ein kleines Paradies. Wären da nicht die Zeugen des Grauens, das diesen Ort und seine Bewohner - wie so viele andere - heimgesucht hat. Zerstörte, ausgebrannte und geplünderte Häuser. Einschusslöcher, wohin man auch blickt. Die Spuren verbrannter Autos am Straßenrand. Hier und da Reste von gelben Absperrbändern der Polizei, die einen Tatort markieren. Und überall Bilder, Plakate, Aufkleber in Erinnerung an die Entführten, die Ermordeten, die Geschändeten. Rührende Botschaften, liebevolle Zeichnungen, Fragmente der Menschlichkeit. Für die Opfer des palästinensischen Hasses. Für die Alten und Jungen, die Frauen und Männer, die Kinder und Babys, deren einziges Verbrechen es war, jüdisch gewesen zu sein.

In verstörende Gewalt gegossene Menschenverachtung

Zum Glück gibt es Dinge, die man nicht sieht. In verstörende Gewalt gegossene Menschenverachtung, die so unermesslich ist, dass weder der junge Mann, der uns begleitet, noch die Überlebenden von Be’eri en détail darüber sprechen wollen. Oder dürfen. Oder können. Die Bruchstücke der Erinnerung, die wir aufsammeln, sind auch so schon schlimm genug.

Etwa die erste Erinnerung unseres Begleiters. Yonathan. Der das Leben liebt. Seine Familie, seine Freunde, das Surfen, das Meer, sein Land. Er ist groß, muskulös, gutaussehend. Er lächelt vorsichtig. Wirkt unsicher. Verletzlich. Der Besuch in Be’eri ist für ihn Therapie. Heilung durch Konfrontation. Der Faden, der die Wunde verschließen soll, die seit den Ereignissen des 7. Oktober klafft.

Am Nachmittag des 7. Oktober wurde Yonathan als Reservist in den Kibbutz Be’eri beordert, in dem die Hamas-Terroristen gerade dabei waren, Unschuldige zu schänden, zu ermorden, zu schlachten. Es war an der ersten Kreuzung, die wir erreichten. Die Kreuzung, an der er in Gedanken in die Vergangenheit zurückkehrte. Uns an dem Albtraum teilhaben ließ. Auf dem Boden lagen Leichen. Bewohner des Kibbuz. Missbrauchte Körper. Manchen wurde der Kopf abgetrennt, abgeschlagen, abgesägt. Anderen wurde der komplette Oberkörper geöffnet. Die Barbaren hatten sie erst aufgeschnitten und dann ausgeweidet. Komplett. Auf den Straßen waren Barrieren errichtet worden. Mit Kinderleichen davor. Eine perverse Inszenierung der Gewalt. Eine Schändung. Eine Entweihung. Mutmaßlich zur Entmutigung herannahender Helfer.

Es dauerte die ganze Nacht

Im ersten Haus, dass sie damals betraten, verlor Yonathan seinen besten Freund. Ermordet nach einer hinterhältigen Attacke. Von einem Hamas-Terroristen, der sich in einem Schrank versteckt hielt und auf seine Opfer wartete. Am Ende des Tages lieferte Yonathan sich zusammen mit weiteren IDF-Soldaten eine erbitterte Schlacht mit den Schergen der Hamas. Diese dauerte die ganze Nacht. Für viele Bewohner des Kibbuz war es da allerdings schon zu spät.

Wir treffen eine Überlebende in ihrem Haus. Oder dem, was davon noch übrig ist. Eine Brandruine. Die Wände voller Ruß. Das meiste zerstört oder zuvor von palästinensischen Horden geplündert. Ein Backblech zur Hälfte aus dem Ofen gezogen. Weiter kam sie nicht, als der Alarm ertönte und sie vor den Terroristen in den Schutzraum fliehen musste. Am Kühlschrank hängen noch Fotos von ihr, ihrem Mann und den Kindern. Bilder von Glück, Freude, Liebe. Verstaubt zwar und rußgeschwärzt, aber ansonsten so, als wäre nichts gewesen. Dabei ist so viel gewesen. Mehr als Menschen ertragen können. Sie lächelt viel, während sie erzählt. Manchmal lacht sie sogar. Das passt zum Wetter. Aber nicht zu ihren Schilderungen. Wahrscheinlich ist es therapeutisch geboten. Oder eine Übersprungshandlung. Oder ein Verarbeitungsprozess, der vielleicht niemals endet. Vielleicht kann man das Grauen aber auch nur so besiegen. In dem man der Erinnerung daran ins Gesicht lacht … Oder sie lacht, weil sie überlebt hat. Und ihre Familie auch. Versteckt in einem Schutzraum. Und weil das einem Wunder gleichkommt. Obwohl eigentlich niemand an Wunder glaubt. Oder?

Lacht sie, weil sie überlebt hat und das einem Wunder gleichkommt?

In unmittelbarer Nachbarschaft lebte eine Familie mit vier Kindern. Als die Terroristen kamen, versteckten sie sich zunächst im Gebüsch hinter dem Haus. Doch als ihre Entdeckung drohte, bildeten sie einen menschlichen Stapel. Zu unterst die beiden kleinsten Kinder. Darüber ihre beiden älteren Geschwister. Und obendrauf die beiden Eltern. Ein menschlicher Schutzwall. Als die Terroristen zu feuern begannen, durchschlugen die totbringenden Geschosse zuerst die Körper der Eltern. Dann drangen sie in die Leiber der beiden älteren Kinder. Tiefer kamen die totbringenden Kugeln nicht. Vier Menschen starben, damit zwei leben konnten.

Nachdem es den beiden Jüngsten gelungen war, sich unter den Leichen ihrer Eltern und Geschwister herauszukämpfen, rannten sie zu ihrer Nachbarin, die sich mit ihren eigenen fünf Kindern im Schutzraum verschanzt hatte. Ihr Mann war zuvor ermordet worden. Kaltblütig erschossen. So verbarrikadierte sie sich mit sieben Kindern und verharrte für endlose Stunden in dem Raum, der schließlich ihr Überleben sichern sollte.

Es war noch lange nicht vorbei

Wir verließen das Haus. Aus der Dunkelheit ins Licht. Aus der Verwüstung zurück ins Leben. Doch es war noch lange nicht vorbei. Es folgte ein Haus nach dem anderen. Eine Geschichte nach der anderen. Entführung, Schändung, Mord und Schlimmeres wechselten sich ab mit Verstecken, Kampf, Überleben. Hier eine Mutter mit ihren zwei Kindern, die in ihrem Haus ermordet wurden. Dort der Ehemann, der als einziger überlebte und nach Gaza verschleppt wurde, wo er 491 Tage lang als Geisel festgehalten wurde. Sein Name: Eli Sharabi. Hier eine ganze Familie, die von den Hamas-Mördern abgeschlachtet wurde und dort die Geschichte einer kleinen Einheit, die dem Beschuss der schwer bewaffneten Terroristen trotzte und sie schließlich unschädlich machte. Ein Sammelsurium von Judenhass, Gewalt und menschlichen Abgründen.

Dazwischen: Blitzlichter des Mutes, der Opferbereitschaft und der Mitmenschlichkeit. All das ist da. Ist geschehen. Wird für einen Moment spürbar. Greifbar. In dieser surrealen Welt aus Sonne und rußgeschwärzter Dunkelheit, aus Frieden und den sichtbaren Zeugen der Zerstörung, aus dem Gesang der Vögel und den längst verklungenen Schreien des Schmerzes, des Verlustes, der Verzweiflung. Dazwischen wabern die unendlichen Fragen. Danach, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können? Wie so viel Hass, so viel Brutalität, so viel Grausamkeit möglich ist? Und was daraus folgt? Was darauf folgt? Wie es weitergehen kann?

»Liebe das Leben!«

Martin Luther King soll gesagt haben, dass man den Hass nicht mit Hass bekämpfen kann, sondern nur mit Liebe. Mag sein. Oder auch nicht. Die Ideologien des Hasses, des Terrors und der Gewalt scheren sich jedenfalls nicht um Liebe. Nicht um Menschlichkeit. Nicht um Mitgefühl. Sie müssen bekämpft werden. Ebenso wie ihre Vordenker, ihre Verbreiter, ihre Unterstützer, ihre Träger, ihre Vollstrecker. Koste es, was es wolle.

Aber selbst wenn die Liebe nicht geeignet ist, den Hass unmittelbar zu bekämpfen, vermag sie etwas anderes: Sie schafft ein Refugium, in das der Hass nicht eindringen kann. Ein Kokon aus Zuneigung, Zärtlichkeit und Mitmenschlichkeit. Einen geistigen Schutzraum, über dessen Eingang das Leitmotiv des Judentums prangt: »Liebe das Leben!« Vielleicht ist das die Antwort.

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Oder man findet sie im Lachen der Überlebenden, als sie sagt, dass sie hierher zurückkehren werden. An den Ort des Grauens, der gleichzeitig ihr Zuhause war. Und der es wieder werden soll. Dass sie ihr Zuhause wieder aufbauen wolle. Gemeinsam den Kibbuz wieder aufbauen wollen. Nicht alle. Aber manche. Dass sie an eine Zukunft glauben. Auch oder gerade hier. Ist das Stärke? Oder Unbeugsamkeit? Oder Resilienz? Ist es Glaube? Oder Zuversicht? Oder Hoffnung? Wahrscheinlich von allem etwas. Und vielleicht ist es nur hier möglich. In Israel. Dem jüdischen Staat. Dem Staat der Juden. Dem Land, in dem sich der Begriff »unmöglich« zwar im Wörterbuch findet, aber keine Entsprechung in der Praxis hat. In dem die Hoffnung über die Erfahrung siegt. Und die Zukunft über die Vergangenheit.

So oder so: Wir werden mit der eindringlichen Bitte verabschiedet, unsere Eindrücke zu teilen. Das Gesehene. Das Gehörte. Das Erfahrene. Weil der Wiederaufbau bald beginnen wird. Und die steinernen Zeugen damit verschwinden. Ebenso wie die meisten Bilder, die Plakate, die Erinnerungsstätten und die liebevollen Botschaften an den rußgeschwärzten Wänden. Die Überlebenden wissen, dass sie nicht nur gegen die Erinnerung an den Tag kämpfen, als das Böse in Menschengestalt nach Be’eri kam, sondern auch für die Erinnerung an diesen Tag, diese Ereignisse, dieses Grauen. Dafür, dass die Welt nicht vergisst, was hier geschehen ist. Nicht nur um der Menschen von Be’eri Willen. Sondern um ihrer selbst willen. Denn wenn man diesen lodernden Hass nicht bekämpft, wird er alles verzehren. Alles!

Ob die Überlebenden dieses Albtraums wohl wissen, dass weite Teile der Welt da draußen nicht nur längst vergessen haben, sondern das Geschehene ignorieren, leugnen, bestreiten? Die Taten der Hamas-Terroristen als legitimen Widerstand rechtfertigen? Als Freiheitskampf? Und Israels Ende herbeisehnen? Und wenn sie es wüssten: Würde das etwas ändern? Oder wäre es nur ein weiteres Steinchen in dem Mosaik des Judenhasses? Also jenes Phänomens, das so alt ist, wie die Juden selbst?Kann sein. Aber was kann schon schlimmer sein, als das, was sie und die Menschen des Kibbuz Be’eri erlebt haben? Überlebt haben!

Ort des Schmerzes

Die Zeit des Abschieds ist für uns gekommen. Es sind die letzten Schritte auf dem blutgetränkten Boden. An dem Ort, wo Hass, Tod und Zerstörung wüteten. Und der seiner Wiedergeburt harrt. Wir verabschieden uns von den Überlebenden und lassen sie mit ihrem Schmerz, ihrer Dankbarkeit und ihrer Hoffnung zurück. Umarmen Yonathan zum Abschied. Den starken, schüchternen, zerbrechlichen jungen Mann, der das Leben liebt und dem Tod ins Auge sah. Der Hamas-Terroristen tötete, um das Leben Unschuldiger zu schützen, zu bewahren, zu retten. Einer der vielen stillen Helden des 7. Oktober. Wir verlassen den Kibbuz Be’eri. Lassen die Schatten der Vergangenheit zurück. Und geben ein neues Ziel im Navigationssystem ein: Re’im Parking Lot. Der Ort, an dem das Nova-Festival stattgefunden hat.

Langsam ziehen dunkle Wolken auf und verdrängen die letzten Sonnenstrahlen. Es ist Regen angesagt. Heftiger Regen. Aber ist es nicht der Regen, der neues Wachstum möglich macht?

Wir erreichen den Ort des Nova-Festivals. Den Ort, an dem das Leben gefeiert wurde und der am 7. Oktober von palästinensischen Terroristen zu einem Ort des Todes verwandelt wurde. Einem Ort des Schmerzes, der Verzweiflung, der Trauer. Und einem Ort, wo inzwischen das liebevolle Gedenken gepflegt wird. Von Familienmitgliedern, Angehörigen, Freunden, Bekannten und Fremden, die den Schmerz teilen. Mit Bildern, Stelen und Biographien. Mit Worten der Liebe, der Zärtlichkeit, der ewigen Verbundenheit.

Dort wurde für jeden Ermordeten ein Baum gepflanzt. Ein Baum für jedes genommene Leben. 364 insgesamt. Manche sind noch Setzlinge, deren Wurzeln sich zaghaft im Erdreich vortasten. Andere sind schon fest verwurzelt. Aber alle streben gen Himmel. Werden wachsen. Werden leben. In diesem Moment fallen die ersten Tropfen. Es beginnt zu regnen.

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