Judenfeindschaft

Im Angesicht des Alltags

von Eberhard Seidel

Islamischer Antisemitismus – dieses Begriffspaar beherrscht seit geraumer Zeit die Debatte. Zu Recht. Denn der Antisemitismus in islamisch geprägten Gesellschaften ist virulent. Erinnert sei an die Ausfälle des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad und seine Leugnung des Holocaust oder an die via Internet und Satellitenfernsehen verbreitete antisemitische Propaganda arabischer Medien, die Muslime weltweit erreicht – auch in Deutschland. Jüngstes Beispiel: der türkische Film Tal der Wölfe mit einer perfiden Darstellung eines jüdischen Arztes, der im Irak Gefangenen Organe entnimmt, um damit Kunden in Tel Aviv, London und den USA zu beliefern.
Viel zu lange hat die deutsche Gesellschaft antisemitische Hetzblätter, Publikationen und Organisationen aus dem muslimischen Umfeld ignoriert. Sie tat ganz so, als sei nur ihr eigener Antisemitismus ernst zu nehmen und der von Muslimen minderer »Güte«. Folglich konnten radikalislamistische Organisationen wie der »Kalifatsstaat« und Hizb ut-Tahrir seit den achtziger Jahren bis zu ihrem Verbot in den Jahren 2002 und 2003 ungehindert ihre Hetze in Predigten und Publikationen verbreiten. Entsprechende Warnungen wurden in den Wind geschlagen.
Inzwischen widmet sich die Öffentlichkeit dem Thema mit einer Hingabe, daß kaum noch wahrgenommen wird, wie wenig wir tatsächlich über den Antisemitismus unter den Muslimen in Deutschland wissen. Bis heute gibt es keine quantitativen und qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die Aufschluß über wichtige Fragen geben: Wie hoch ist der Anteil an antisemitischen Einstellungen unter Muslimen? Welche Sendungen mit antisemitischem Inhalt aus dem arabischen Raum werden von Muslimen in Deutschland konsumiert? Welche Wirkung haben sie auf die Konsumenten? Welche Rolle spielt es, daß in Deutschland, anders als in Frankreich und Großbritannien, neunzig Prozent der Muslime keinen arabischen, sondern einen türkischen Hintergrund haben? Gibt es in den antisemitischen Einstellungen tatsächlich einen quantitativen und einen qualitativen Unterschied zwischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft?
Antworten auf all diese Fragen sind unerläßliche Voraussetzung, um wirksame Gegenstrategien zu entwickeln. Verbote von Organisationen oder Publikationen allein werden nicht ausreichen, um dem Problem beizukommen. Neben repressiven Maßnahmen und der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit muslimischen Verbänden brauchen wir pädagogische Interventionen an den Schulen.
Bei aller Brisanz des Themas gilt: Auch Muslime haben ein Recht auf fairen Umgang. Ahmed aus Kreuzberg ist nicht der iranische Präsident und Ayse aus Köln nicht verantwortlich für die Verfilmung von Ritualmordlegenden in Syrien. Publizistische Darstellungen, die den Antisemitismus im kulturell-religiösen Hintergrund der islamischen Minderheit verorten, mögen derzeit zwar populär sein, führen aber in die Irre. So weist der Antisemitismusforscher Klaus Holz in seiner Studie Die Gegenwart des Antisemitismus nach, daß es keinen originär islamischen Antisemitismus gibt, sondern daß alle Formen des Antisemitismus – die islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft – über die gleichen semantischen Strukturen verfügen: Er ist in allen wesentlichen Aspekten ein Export aus Europa, der der islamistischen Semantik angepaßt wurde.
Wenn dem so ist, dann läßt sich Antisemitismus nur gemeinsam bekämpfen – von Christen, Muslimen, Juden, Nichtreligiösen und Säkularen. Der pauschalisieren- de Antisemitismusvorwurf gegen Muslime eignet sich nicht als weitere Frontlinie im Kampf der Kulturen. Eine Veranstaltungsreihe der Organisation »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« zu den Themen Antisemitismus und Islam ergab: In berufsbildenden Schulen, aber auch in Hauptschulen und Gymnasien gibt es sowohl bei einem Teil der Schüler, deren Familien aus islamischen Ländern und aus Osteuropa einwanderten, als auch bei Jugendlichen deutscher Herkunft einen rabiaten Antisemitismus. Nach Erzählungen der Jugendlichen gehören Sprüche wie »Du Jude« oder »Kauf nicht beim Juden« oder »Nur ein toter Jude ist ein guter Jude« auf Schulhöfen zum Alltag. Ebenso ist das Stereotyp des reichen, intriganten und einflußreichen Juden, der weltweit das politische Geschehen bestimmt, bei allen Schülergruppen weit verbreitet.
Der Antisemitismus speist sich aus Alltagserzählungen im Freundes- und Familienkreis. Einige wenige Schüler wurden offensichtlich durch islamistische oder rechtsextremistische Kader geschult und versuchen, in ihrem Umfeld die Meinungsführerschaft zu erringen. Viele Lehrer stehen dieser Situation recht hilflos gegenüber, denn bislang standen in der Schule Informationen zum klassischen Antisemitismus und den Verbrechen der NS-Zeit im Vordergrund. Dies reicht angesichts des multiplen Antisemitismus einer interkulturellen Schülerschaft nicht mehr aus.

Der Autor ist Geschäftsführer der Berliner Initiative »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«.

Geiseldeal

Itay Chen ist wieder in Israel

Die Leiche des 19-jährigen, israelisch-amerikanischen Soldaten wurde am Dienstagabend von Terroristen der Hamas übergeben

 05.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  06.11.2025 Aktualisiert

Terror

Hamas übergibt erneut Leichen an Rotes Kreuz

Die Hamas hat dem Roten Kreuz erneut Leichen übergeben. Ob es sich bei den sterblichen Überresten in drei Särgen wirklich um Geiseln handelt, soll nun ein forensisches Institut klären

 02.11.2025

Augsburg

Josef Schuster und Markus Söder bei Jubiläumsfeier von jüdischem Museum

Eines der ältesten jüdischen Museen in Deutschland feiert in diesem Jahr 40-jähriges Bestehen. Das Jüdische Museum Augsburg Schwaben erinnert mit einer Ausstellung an frühere Projekte und künftige Vorhaben

 29.10.2025

Interview

»Wir sind für alle Soldaten da«

Shlomo Afanasev ist Brandenburgs erster orthodoxer Militärrabbiner. Am Dienstag wurde er offiziell ordiniert

von Helmut Kuhn  29.10.2025

Bayern

Charlotte Knobloch kritisiert Preisverleihung an Imam

Die Thomas-Dehler-Stiftung will den Imam Benjamin Idriz auszeichnen. Dagegen regt sich nicht nur Widerstand aus der FDP. Auch die 93-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens schaltet sich nun ein

von Michael Thaidigsmann  29.10.2025

Jerusalem

Karin Prien in Yad Vashem: »Jedes Mal für mich erschütternd«

Bei ihrer Israel-Reise erinnert die Bildungsministerin an die Millionen Opfer des Holocaust. Der Moment berührt die CDU-Politikerin auch aus einem persönlichen Grund

von Julia Kilian  28.10.2025

Bildungsministerin

Karin Prien reist nach Israel

Die CDU-Ministerin mit jüdischen Wurzeln will an diesem Sonntag nach Israel aufbrechen. Geplant sind Treffen mit dem israelischen Bildungs- und Außenminister

 26.10.2025

München

Paul Lendvai: »Freiheit ist ein Luxusgut«

Mit 96 Jahren blickt der Holocaust-Überlebende auf ein Jahrhundert zwischen Gewalt und Hoffnung zurück. Besorgt zeigt er sich über die Bequemlichkeit der Gegenwart - denn der Kampf »gegen das Böse und Dumme« höre niemals auf

 21.10.2025