Trauer

Gemeinsam gegen den Schmerz

von Jonathan Rosenblum

Hinter mir liegt ein Jahr der Trauer um meinen Vater. In diesem Jahr habe ich aufs Neue zu schätzen gelernt, wie sehr die alten jüdischen Bräuche den emotionalen Bedürfnissen des Trauernden entgegenkommen.
Jede Stufe des Trauerprozesses – die ersten sieben Tage nach der Beerdigung, die ersten dreißig Tage, die elf Monate des Kaddisch-Sprechens – hat ihre eigenen Regeln und Restriktionen. Zusammen er-
legen sie dem eigenen Leben eine – zumindest in meinem Fall – ungeahnte Struktur und Disziplin auf. Das Trauern erinnert uns daran, dass das Leben endlich ist. Und die Regeln, denen wir uns unterwerfen, lehren uns, der uns geschenkten Zeit das meiste abzugewinnen, bevor auch wir »den Drang des Irdischen« abschütteln.
Bis zum Hinscheiden meines Vaters kannte ich ein Haus der Trauer nur vom Standpunkt desjenigen, der Trost spendet. Doch bereits damals beeindruckte mich die Weisheit der uralten Formen. Gemäß der Halacha muss man warten, bis der Trauernde das Gespräch eröffnet. Es ist nicht Aufgabe desjenigen, der gekommen ist, zu trösten, das Schweigen zu brechen; vielmehr soll er dem Beispiel des Trauernden folgen. Jemand, der den Drang verspürt, etwas zu sagen – sei es tiefgründig oder witzig –, wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine Dummheit von sich geben. Die Halacha befreit ihn von diesem Druck.
Die Schiwa-Häuser, an die ich mich aus meiner Kindheit in einem bürgerlichen Vorort erinnere, waren in der Regel mit Speisen angefüllt. Die Trauernden benahmen sich, als müssten sie für die Unterhaltung ihrer Gäste sorgen. Und die Gäste glaubten anscheinend, ihre Rolle bestünde hauptsächlich darin, die Trauernden mithilfe von Smalltalk von ihrem Schmerz abzulenken.
Ganz anders sieht es in einem traditionellen Haus der Trauer aus. Die Trauernden sitzen auf dem Fußboden oder auf niedrigen Stühlen; wenn überhaupt wird nur wenig zu essen angeboten; und im Idealfall dreht sich das Gespräch um den Verstorbenen. Natürlich wird kein Ideal je vollständig verwirklicht. Es wird immer solche geben, die darauf bestehen, von der letzten Woche oder den letzten fünf Minuten eines langen Lebens zu hören, in der Hoffnung, gerade dasjenige Detail auszukundschaften, das sie davon überzeugt, ih-
nen bleibe ein solches Schicksal erspart. Doch im Allgemeinen konzentrierte sich die Schiwa für meinen Vater auf die Freude in seinem Leben.
Ich wollte nicht abgelenkt werden vom Reden über meinen Vater. Das ganze Jahr der Trauer hindurch fand ich den stärksten Trost darin, über meinen Vater zu sprechen und meine Erinnerungen mit anderen Menschen zu teilen. Gewiss brachten mich diese Gespräche oft von Neuem zum Weinen, aber es waren nicht nur Tränen der Trauer. Der Schmerz des Verlustes war direkt proportional zur Kostbarkeit unserer Beziehung.
Gegen Ende der Schiwa-Zeit versetzte mich die Erwartung, dass ich die öffentlichen Gebete leiten sollte, in Angst und Schrecken. In den drei Jahrzehnten davor hatte ich mir gelegentlich ausgemalt, dass ich eines Tages aufgerufen werden könnte, das Dawenen (Gebet) zu leiten. Aber jedes Mal redete ich mir ein, dass Vater sehr stark war und bestimmt 120 Jahre alt werden würde. Und wer würde einen 99-jährigen Sohn aufrufen, das Dawenen zu leiten? Es ist nicht so gekommen. Das erste Mal, soweit ich mich erinnern konnte, dass Vater mich im Stich ließ.
Doch dann stellte sich heraus, dass er mich keineswegs im Stich gelassen hatte. Dass ich gezwungen war, zu lernen, wie man das Dawenen leitet, war sein Ab-
schiedsgeschenk. Ich fühle mich jetzt nicht länger wie ein Marane in der Synagoge, in ständiger Angst, dass man mich mit der Leitung betraut.
Von meinem Vater habe ich eine gewisse Gehemmtheit bei Dingen, die ich nicht gut mache, geerbt. Und es gab in den ers-
ten Monaten nach seinem Tod wenig, was ich je so schlecht gemacht habe wie die Leitung der Gebete. Groß war am Ende jedes Minjans die Zahl derjenigen, die gu-
te Ratschläge für mich hatten.
Doch der Terror, den ich jedes Mal empfand, wenn ich noch vorn ging, brachte mich meinem Vater auch näher, denn er erinnerte mich daran, dass nur meine große Liebe zu ihm mich jemals dazu bringen konnte, es zu tun. Und »Dawka«, gerade weil er meine Gehemmtheit teilte. Ich wusste, er hätte mein Unbehagen verstanden und meine Überwindung anerkannt. Schließlich erreichte ich den Punkt, dass ich es genoss, die Gebete zu leiten.
Mit am schwersten für einen Trauernden ist der Verlust der Verbindung mit dem geliebten Menschen und die Erkenntnis, dass man ihn oder sie auf dieser Welt nie wieder sehen wird. Doch die Notwendigkeit, mein Leben um die dreimal täglich stattfindenden Minjanim zu organisieren und das Kaddisch zu sprechen, be-
deutete, dass ich immer an Vater dachte – oft sah ich sein Gesicht vor mir.
Auch die diversen Einschränkungen – an keinem frohen Fest teilnehmen zu können, das Verbot, neue Kleider zu kaufen –gemahnen unausgesetzt an den Verstorbenen. Jetzt, da das Trauerjahr vorbei ist, ver-
misse ich all diese Verpflichtungen und Einschränkungen sogar, das Gefühl der Verbundenheit, das mit ihnen einhergeht.
Es ist normal, dass Trauernde sich ge-
genüber dem verstorbenen geliebten Menschen bis zu einem gewissen Grad schuldig fühlen; dass sie bei Dingen verweilen, die sie hätten sagen oder tun sollen. Diese Schuldgefühle werden durch das Wissen, dass es zu spät ist, noch schmerzvoller.
Für einen jüdischen Trauernden jedoch gibt es einen Weg, über den Tod hinaus et-
was für den anderen zu tun. Wir glauben, dass unsere Gebete, unsere Nächstenliebe, unser Tora-Studium dem geliebten Menschen den Übergang in die nächste Welt erleichtern. Bei der Jahrzeit für Vater standen Söhne und Enkelsöhne nacheinander auf, um talmudische Traktate und Misch-najot zu sprechen, die sie für ihn gelernt hatten. Die jüdischen Trauerbräuche boten mir im ersten Jahr ohne Vater Halt und Struktur. Jetzt kommt der schwere Teil, nämlich das Erbe zu bewahren und der Schönheit seines Lebensweges nachzueifern, in der Hoffnung, dass, wenn meine Zeit gekommen ist, meine Kinder sich mit ebenso viel Liebe und Respekt an mich erinnern, wie ich mich ewig an ihn erinnern werde.

Der Autor ist Direktor von Jewish Media Re-
sources, Jerusalem.
www.jewishmediaresources.com

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