Ostdeutschland

»Feindliche Elemente«

von Michael Wuliger

Julius Meyer, Häftlingsnummer 103889, wurde am 2. Mai 1945 von der Sowjetarmee aus dem KZ Ravensbrück befreit. Der gelernte Kaufmann kehrte nach Berlin zurück, wurde KPD-Mitglied und arbeitete beim Ernährungsamt der Stadt. Gleichzeitig betreute er zusammen Heinz Galinski andere Überlebende der Schoa und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass sie versorgungsrechtlich mit Widerstandskämpfern gleichge- stellt wurden. 1946 wurde Meyer Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin. Bei der ersten Volkskammerwahl 1949 zog er als Abgeordneter in das DDR-Parlament ein. Doch dann drehte sich der Wind. Stalin startete in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten eine offen antisemitische Kampagne gegen »wurzellose Kosmopoliten« und »zionistische Agenten«. Auch Julius Meyer geriet ins Visier. 1953 musste er in den Westen fliehen. Doch in der Bundesrepublik war der ehemalige SED-Mann suspekt. Die Anerkennung als politischer Flüchtling und die Wiedergutmachung wurden ihm verweigert. Meyer ging nach Brasilien, wo er 1979 starb.
Julius Meyer ist einer von acht Juden in Ostdeutschland, deren Lebenswege das Centrum Judaicum jetzt in einer Ausstellung exemplarisch präsentiert: die Unternehmer Otto Ephraim und Josef Jubelski, der Hotelier Adalebert Bela Kaba-Klein, der Polizeioffizier Fritz Katten, die jüdischen Gemeindefunktionäre Julius Meyer und Erich Nelhans, die Tänzerin Eva Robinson, der Betriebsleiter Ernest Wilkan, der Bürgermeister Karl Wolfsohn und der Staatssekretär im Präsidialamt der DDR Leo Zuckermann. Sie alle hatten die Schoa überlebt, in der Emigration, im KZ, versteckt oder geschützt durch eine »privilegierte Mischehe«. Sie alle hatten nach der Befreiung ihre Hoffnungen auf den proklamierten »antifaschistischen Neubeginn« gesetzt. Sie alle gerieten stattdessen als »feindliche Elemente« in die Mühlen der sowjetischen und DDR-Politik. Manche flohen in den Westen, andere verloren ihre Stellung, wieder andere kamen ins Zuchthaus, das nicht alle überlebten.
Hintergrund war der nach anfänglicher Unterstützung Israels durch die Sowjet-union bald zunehmend antizionistische Kurs des sozialistischen Lagers. Juden galten jetzt als potenzielle feindliche Agenten. In der DDR kam der Streit um die Wiedergutmachung hinzu . Während eine Minderheit in der SED-Führung um das Politbüromitglied Paul Merker aus moralischen Gründen eine Restitution »arisierten« jüdischen Eigentums forderte, ging die Parteiführung um Walter Ulbricht die Frage »klassenmäßig« an: Kapitalist war Kapitalist, ob jüdisch und verfolgt oder auch nicht.
Der junge Historiker Andreas Weigelt, der die Ausstellung kuratiert, hat sich ein faszinierendes und noch immer unterbeleuchtetes Kapitel deutscher Geschichte zum Thema gewählt. Leider hat er es jerdoch ästhetisch etwas dürftig umgesetzt. Die kleine Schau in nur einem Saal strahlt den Charme einer provinziellen Volkshochschule aus: Stellwände mit Fotos, Daten, Namen und Zahlen, äußerst wenige Originalexponate, meist Bücher oder Zeitungen, dazu in einer einzigen und kleinen Videostation Ausschnitte aus alten DDR-Wochenschauen. So macht man, mit Verlaub, seit 30 Jahren keine Ausstellungen mehr. Gewiss, das Centrum Judaicum hat nicht so viel Geld wie die Konkurrenz vom Jüdischen Museum Berlin. Dessen gelegentlich ins allzu Bunte ausufernde Gestaltungsfreude muss man auch nicht unbedingt nachahmen. Aber ein bisschen publikumsfreundlichere und ästhetisch ansprechendere Ausstellungen als diese muss man den Zuschauern heute schon anbieten. Sonst bleiben sie weg. Und das wäre angesichts des wichtigen und spannenden Themas schade.

»Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biografien«, Centrum Judaicum Berlin, Neue Synagoge, Oranienstraße. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiges Buch von 248 Seiten im text.verlag Berlin zum Preis von 16,90 € erschienen.
www.cjudaicum.de

.

München

Paul Lendvai: »Freiheit ist ein Luxusgut«

Mit 96 Jahren blickt der Holocaust-Überlebende auf ein Jahrhundert zwischen Gewalt und Hoffnung zurück. Besorgt zeigt er sich über die Bequemlichkeit der Gegenwart - denn der Kampf »gegen das Böse und Dumme« höre niemals auf

 21.10.2025

Abkommen

»Trump meinte, die Israelis geraten etwas außer Kontrolle«

Die Vermittler Steve Witkoff und Jared Kushner geben im Interview mit »60 Minutes« spannende Einblicke hinter die Kulissen der Diplomatie

von Sabine Brandes  20.10.2025

Washington

Trump droht Hamas mit dem Tod

Die palästinensische Terrororganisation will ihre Herrschaft über Gaza fortsetzen. Nun redet der US-Präsident Klartext

von Anna Ringle  16.10.2025

Terror

Hamas gibt die Leichen von Tamir Nimrodi, Uriel Baruch und Eitan Levy zurück

Die vierte Leiche ist ein Palästinenser

 15.10.2025 Aktualisiert

München

Friedman fordert Social-Media-Regulierung als Kinderschutz

Hass sei keine Meinung, sondern pure Gewalt, sagt der Publizist. Er plädiert für strengere Regeln

 10.10.2025

Waffenruhe

»Wir werden neu anfangen, egal, wie schwer es ist«

Im Gazastreifen feiern die Menschen die Aussicht auf ein Ende des Krieges

 09.10.2025

Perspektive

Wir lassen uns nicht brechen – Am Israel Chai! 

Ein Zwischenruf zum 7. Oktober

von Daniel Neumann  06.10.2025

Berlin

Preis für Zivilcourage für Brandenburger Bürgermeisterin

Christine Herntier wird für ihr Engagement gegen Rechtsextremismus vom »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ausgezeichnet

 01.10.2025

Terror

»Das Einfühlungsvermögen für Juden ist aufgebraucht«

Die Berliner Psychologin Marina Chernivsky zieht eine bittere Bilanz nach dem 7. Oktober

von Franziska Hein  30.09.2025