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»Ende der Sprachlosigkeit«

Zwei Juden sitzen in einem Zugabteil. Man merkt es ihnen an: Jeder würde sehr gern das Gespräch mit dem anderen aufnehmen. Doch wie? Keiner scheint einen Aufhänger zu finden. So beginnt ein Witz, den der Moskauer Schriftsteller Asar Eppel kürzlich beim Festabend für die erste in Russland gedruckte und verbreitete Auflage des »Jerusalem Journals« erzählte. Sprachlosigkeit – für die beiden Reisenden sei das ein kaum erträglicher Zustand, kommentierte Eppel vor den vielen Zuhörern, die die Große Choral-Synagoge im Zentrum Moskaus an diesem Abend bis auf den letzten Platz füllten.
Die erste russische Auflage des Journals ist ein Schritt aus der Sprachlosigkeit. »Wir wollen den jüdischen Schriftstellern in Russland damit eine Plattform geben«, sagt Welfl Tschernin, Dichter und Vizepräsident des Russischen Jüdischen Kongresses (RJK). »Wir schließen damit eine Lücke. Denn in der jüngeren Vergangenheit gab es in Russland keine jüdische Literaturzeitschrift mehr.«
Bereits seit 1999 erscheint die »Zeitschrift für zeitgenössische israelische Literatur in russischer Sprache«, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, in Israel. Jetzt soll sie, finanziert vom RJK und Privatspenden, auch viermal jährlich in einer Auflage von 1.000 Exemplaren in Russland vertrieben werden, vor allem im Aboverkauf. Im ersten, rund 25 Zentimeter hohen und 15 Zentimeter breiten, in gelblichen Karton eingebundenen Band sind auf 320 Seiten Romanfragmente, Erzählungen und Gedichte versammelt. Die Texte stammen von in Israel und Russland lebenden jüdischen Autoren, darunter Grigori Kanowitsch, Alex Tarn, Asar Eppel oder die in Russland populäre Dina Rubina.
»Viele Texte in der Zeitschrift werden aus dem Hebräischen und Jiddischen ins Russische übersetzt«, sagt RJK-Vizepräsident Tschernin. »Das ist nötig, weil die in Russland verbliebenen Juden diese Sprachen nicht mehr sprechen. Sie unterhalten sich auf Russisch.« Tschernin vergleicht die Situation der Juden in Russland mit der der Russlanddeutschen. Beide lebten fern ihrer eigentlichen Heimat – für die Juden in Russland sei das Israel. Ihre ursprüngliche Sprache hätten sie verlernt und damit einen wichtigen Teil ihrer Kultur verloren.
»Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch heute gibt es in Russland jüdisches Kulturleben«, schiebt Tschernin nach. In Theatern würden Stücke jüdischer Schriftsteller aufgeführt und jüdische Literatur würde gedruckt. Allerdings finde das Kulturleben eben ausschließlich in russischer Sprache statt. Früher in der Sowjetunion sei das noch anders gewesen – Theaterstücke seien in jiddischer Sprache aufgeführt, Bücher auf Jiddisch gedruckt worden und mit »Die Gasse« habe es eine Literaturzeitschrift in jiddischer Sprache gegeben. Dann, Anfang der 90er-Jahre, seien mit dem Untergang der Sowjetunion auch das Jiddische und das Hebräische verschwunden.
Dennoch, glaubt Tschernin, sind die Bedingungen für die Entfaltung der jüdischen Identität in Russland besser als in vielen anderen Ländern. »In Deutschland beispielsweise wird das Judentum mit einer Religion gleichgesetzt. Nichts weiter«, so der RJK-Vizepräsident, der mehrfach für die Jewish Agency in Deutschland tätig war. In Russland dagegen haben die Juden den Status einer nationalen Minderheit. »Das ist ein entscheidender Unterschied«, findet er. »Die Nationalität umfasst neben der Religion auch Kultur und Sprache. All das sind wichtige Bestandteile der jüdischen Identität.« Die russische Auflage des »Jerusalem Journal« soll das Bewusstsein für die eigene Identität, für Literatur und Sprache stärken.
Übrigens: Die beiden Juden im Abteil des fahrenden Zugs haben am Ende eine gemeinsame Sprache gefunden. Nach langem Grübeln fasste sich der eine ein Herz und sprach den anderen an: »Entschuldigen Sie bitte, korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre: Aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auch mit diesem Zug fahren?« Christian Jahn

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