Holocaust

Ein Sommerhaus am Strand

Es ist genau 70 Jahre her, dass ich mit meinen Eltern in einen Zug stieg und wir mit nur ganz wenig Gepäck unsere Heimatstadt Hamburg verließen. Es war Ende Februar 1939. Ich war neun Jahre alt, und es wurde höchste Zeit, Deutschland den Rücken zu kehren. Wir hofften, dass wir über Italien und Albanien nach Amerika kommen würden – und am Ende ist das ja auch passiert.
Erst 1971 bin ich wieder nach Hamburg gekommen. Es war sehr traurig, durch meine Geburtsstadt zu gehen und zu denken: Da lebte eine Tante und dort ein Onkel, keiner hat überlebt, und nichts ist mehr da von dem jüdischen Leben, das mir als Kind so vertraut war. Ich wollte damals ein paar Tage in Hamburg bleiben, aber es ging nicht. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, die Leute würden denken: »Was macht denn die hier? Warum ist sie nicht in Auschwitz?« Es hat niemand etwas gesagt! Es war nur, dass ich überlegte, was die Leute denken. Und nach einem Tag bin ich wieder gefahren.
Später, als wir dann auch mit unseren Kindern Hamburg besucht haben, hat sich das gelegt. Aber dass ich, wie heute, einmal vor Hamburger Schülern aus meinem Leben berichten würde, das hätte ich nie gedacht. Nur schade, dass ich nicht wusste, dass einige der Schüler Muslime waren. Ich wäre gern darauf eingegangen.
Die Jugendlichen haben nicht nur konzentriert zugehört, sondern auch sehr gute Fragen gestellt. Wobei ich manche davon bis heute nicht beantworten kann: Warum wir Juden so verfolgt werden? Darauf weiß ich keine Antwort. Eine gute Frage war auch, wie ich mich fühle. Hauptsächlich als Jüdin, als orthodoxe Jüdin. Und natürlich als Amerikanerin. Ich lebe schon so lange in Washington.
Wenn ich heute nach Hamburg komme, wie jetzt, dann treffe ich hier Menschen, die Freunde geworden sind. Zu Hause sprechen wir kaum Deutsch, obwohl mein Mann wie ich aus Deutschland kommt und ebenfalls während der Nazizeit ausgewandert ist. Aber ich lese gern auf Deutsch, bis heute. Leider spreche ich kein Albanisch.
Ja, Albanien. Wenn ich erzähle, dass ich mit meinen Eltern die Schoa in Albanien überlebt habe, sagen immer alle: Oh, Albanien, wie interessant. Was weiß man schon über dieses Land? Wir wussten nichts, außer dass es auf dem Balkan liegt und wir dort unter primitiven Bedingungen würden leben müssen – bis das Visum für Amerika hoffentlich schnell da sein würde. Dass wir den ganzen Krieg über in Albanien bleiben würden, haben wir am Anfang nicht geahnt. Und – das habe ich den Schülern vorhin ja auch gesagt – wenn die Nazis nicht gekommen wären, wenn sie nicht diese Zustimmung gefunden hätten, dann wären meine Kinder und meine Enkel wohl in Hamburg aufgewachsen, so wie ich, wie meine Mutter, deren Mutter und auch ihre Mutter. Nun aber mussten wir in einem Land unterkommen, das wir überhaupt nicht kannten. Das war schwer, aber wir haben überlebt.
Uns haben Menschen geholfen, das kann man eigentlich im Nachhinein gar nicht verstehen. Manchmal war das richtig grotesk. Zum Beispiel ein Paar: Sie war Deutsche, er Albaner, der Mann hatte in Braunschweig studiert, war Ingenieur geworden, und gemeinsam waren sie nach Albanien zurückgegangen. In ihrem Wohnzimmer hing ein Bild von Hitler, ein richtig großes, in Farbe. Die Frau war sehr stolz darauf, dass ihr Vater eines der ersten NSDAP-Mitglieder war. Aber sie haben uns trotzdem geholfen, ganz selbstverständlich. Und sie haben uns nie verraten. Ich bin dort oft mit meinen Eltern gewesen. Manchmal waren auch andere Deutsche da. Das war schon in der Zeit, als nach den Italienern die Deutschen Albanien besetzt hatten und nach Juden suchten, und wir saßen zusammen, tranken Kaffee und redeten. Doch eines Tages, es muss im Winter 1943 gewesen sein, waren deutsche Offiziere zu Besuch, und einer von ihnen fragte meinen Vater: »Warum sind Sie eigentlich nicht in Deutschland und kämpfen für die Heimat?« Mein Vater hat sich irgendwie rausgeredet – und von diesem Tag an sind wir da nie wieder hingegangen.
Oft ist uns so etwas passiert, und immer ist es gut gegangen, wie in den Wochen, als wir in einer Art Sommerhaus am Strand lebten. Die Deutschen suchten in der Gegend nach Partisanen, die langsam aus den Bergen herunterkamen und nachts sehr aktiv wurden. Sie hatten wohl gehört, dass da am Strand Deutsche wohnen und wollten uns besuchen. Wir haben alles unternommen, damit das nicht passiert: Tagelang sind wir nur am Meer gewesen, um nicht zu Hause zu sein. Doch eines Morgens haben sie uns doch angetroffen. Mein Vater saß im hinteren Zimmer, meine Mutter hat sofort abgesperrt. Er hockte auf einem Stuhl und konnte sich die ganze Zeit nicht rühren, sonst hätten die Dielen geknarrt. Die Offiziere ließen sich gemütlich nieder und tranken Kaffee, und zwischendurch kamen ihre Soldaten und meldeten, ob sie Partisanen gefunden hätten. Die saßen da von zehn Uhr morgens bis nachmittags um drei! Meine Mutter hat gedacht: Die gehen nie.
Letztes Jahr war ich noch einmal in Albanien und habe dort auch den Sohn des ehemaligen Königs getroffen. Das ist auch so eine Geschichte: Wir waren damals gerade mit unserem wenigen Gepäck eingetroffen, da wurde mit Salutschüssen die Geburt des Sohnes und Thronfolgers des albanischen Königs bekannt gegeben. Albanien war seinerzeit eine Monarchie, und der König hat verfügt, dass die Grenzen für alle Juden offen sind. Er hatte sogar geplant, allen Juden, die Schutz suchten, die albanische Staatsbürgerschaft zu geben. Er wollte sie ansiedeln. Doch dann wurde Albanien von Italien besetzt, und er musste selbst ins Exil. Das wollte ich seinem Sohn erzählen, doch er sagte zu mir: »Ich weiß, ich habe Ihr Buch gelesen.« Mein Buch, in dem ich das schildere, gibt es mittlerweile nämlich auch auf Albanisch.
Meine Kinder haben mich gedrängt, die Geschichte aufzuschreiben. Ich habe das lange nicht gewollt, denn man durchlebt beim Schreiben alles noch einmal: die Angst, die Furcht, die Unsicherheit. Doch sie haben nicht lockergelassen, und 1983 habe ich mich dann zweimal die Woche für ein paar Stunden zu Hause eingeschlossen und das Buch geschrieben. Es war anfangs nur für meine Kinder gedacht. Ich wollte ihnen zeigen, wie deutsch die Juden in Deutschland einst fühlten, wie patriotisch.
Ich habe nur 100 Exemplare drucken lassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das viele interessiert. Aber die Bücher waren im Nu weg, und es wurde noch fünfmal nachgedruckt. Im Holocaustmuseum in Washington ist mein Buch das einzige Buch über Albanien. Auch auf Deutsch gibt es das jetzt, eben in der Schule sind ein paar verkauft worden. Das freut mich natürlich. Es wissen nicht viele, dass um die hundert deutsche Juden, aber auch Juden aus Jugoslawien und Griechenland, in Albanien überlebt haben.
Wenn sich noch einmal die Gelegenheit bieten sollte, hier in Deutschland vor Schülern zu reden, würde ich das gern wieder tun. Das war wirklich ein anregender Vormittag, nur eben schade, dass ich das mit den muslimischen Schülern nicht wusste, aber ich hätte ja auch selbst drauf kommen können: Ich hab doch gesehen, dass einige der Mädchen Kopftücher trugen.
Nach dem 11. September war ich zu Hause in Amerika auch zu einer Lesung vor Schülern eingeladen, und ich habe kurz vorher die Lehrerin angerufen und ihr gesagt: »Ich habe die Verfolgung in einem mehrheitlich muslimischen Land überlebt. Aber ich kann nichts Schlechtes über diese Leute sagen, im Gegenteil.«

Aufgezeichnet von Frank Keil

johanna jutta neumann:
umweg über albanien.
ein persönlicher bericht
DAFG, Bochum 2003, 159 S., 10,90 Euro

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