Claude Lévi-Strauss

Ein Leben für Strukturen

von Stefan Ripplinger

Von Zeit zu Zeit hat er im französischen Fernsehen seine kurzen, düsteren Auftritte. Er spricht dann vom Dahinschwinden der lebenden Arten und meint die Pflanzen und Tiere, die er so sehr liebt. Er spricht von einer »inneren Vergiftung« des Menschengeschlechts. Und er spricht davon, dass er es nicht bedauert, diese Welt demnächst zu verlassen. Claude Lévi-Strauss, einst der kühlste Denker der französischen Theorie, ist im hohen Alter bitter geworden. Aber nie verliert er seine vollendete und unzeitgemäße Höflichkeit. Er erscheint wie ein Dinosaurier aus einem längst vergessenen Jahrhundert, das in Wahrheit erst kürzlich zu Ende ging.
Als Sohn elsässischer Juden wurde Lévi-Strauss am 28. November 1908 in Brüssel geboren. Die Familie zieht 1914 nach Versailles, wo der Großvater als Rabbiner, der Vater als Kunstmaler wirkt. Der junge Claude wird von einer Jugendfreundin als fröhliches Kind beschrieben. Aber mit der Adoleszenz habe er die Albernheiten der anderen Jugendlichen nicht mehr ertragen. Lévi-Strauss wird zu einem ernsthaften jungen Mann, der sich bald auch in administrativen und diplomatischen Stellungen bewährt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er für kurze Zeit französischer Kulturattaché in New York, er steht im Dienst der Unesco, wird Studiendirektor, Generalsekretär, schließlich Mitglied der Académie française und der Ehrenlegion. Doch weitaus erstaunlicher als seine Karriere ist sein Werk.
Zu dessen Verständnis hat es nicht gerade beigetragen, dass ein Reisebericht bis heute sein bekanntestes Buch geblieben ist: Traurige Tropen (1955). Es ist Frucht von Feldforschungen bei den Indianern Brasiliens. Ein Zufall führt den jungen Gelehrten 1934 nach Südamerika. Gerade in der Philosophie promoviert, hat er sich eine Weile als Gymnasiallehrer durchgeschlagen. Da wird ihm eine Professur für Soziologie in São Paulo angeboten, die er annimmt. Zwar nun offiziell Soziologe, interessiert sich Lévi-Strauss doch mehr und mehr für die Soziologie der schriftlosen Gesellschaften, kurz die Ethnologie.
Traurige Tropen ist von einem hohen Respekt gegenüber den Indianern geprägt, die er nicht, wie Ethnologen vor ihm, als »Naturvölker« begreift. Vielmehr erkennt er bei ihnen eine »Grundlage der menschlichen Kultur«, die er im Westen vermisst. Unübersehbar lässt er sich von den Ideen Jean-Jacques Rousseaus leiten, den er »unseren Lehrer, unseren Bruder« nennt. Wer den im Alter so unerbittlichen Zivilisationskritiker begreifen will, lese Traurige Tropen. Der Strukturalist Lévi-Strauss ist freilich von anderem Schlag, kühl, mitunter frostig, objektiv, mathematisch genau.
Er vertritt den allerfrühesten Strukturalismus, der noch keine Lust zum Spielen hat. Entscheidend für dessen Entstehung ist eine Begegnung in den USA. Nach seiner brasilianischen Zeit dient Lévi-Strauss im Krieg gegen die Deutschen, flieht nach der französischen Niederlage und arbeitet ab 1941 an der New School of Social Research in New York. Dort lernt er Roman Jakobson kennen, den brillantesten Sprachwissenschaftler seiner Zeit. Jakobson macht ihn mit der Linguistik Ferdinand de Saussures und des Prager Kreises bekannt, insbesondere aber mit der Phonologie des Fürsten Trubetzkoy.
Wenige Jahre später wird Lévi-Strauss schreiben: »Die Phonologie muss für die Sozialwissenschaften die gleiche Rolle des Erneuerers spielen wie zum Beispiel die Kernphysik für die Gesamtheit der exakten Wissenschaften.« Aber wie soll eine Lehre von den Lauten die Sozialwissenschaften erneuern? Dazu muss man wissen, dass es Jakobson, Saussure und Trubetzkoy gelungen ist, die Grammatik der Sprache durch simple Gegensatzpaare zu erklären. Sie führen Sprache zurück auf Grundelemente, gewissermaßen Atome (Phoneme, Morpheme), die jeweils durch ihren Gegensatz zu anderen bestimmt sind. Salopp gesagt, sind »h« und »r« Phoneme, weil die Hose keine Rose ist.
Dieses genial einfache System muss Lévi-Strauss faszinieren, der doch bislang in einem anscheinend ganz anderen Fach arbeitet. Denn es gestattet den Nachweis, dass Sprechen, also eine zutiefst menschliche Fähigkeit, nicht auf Zufällen und Vorlieben beruht, sondern auf einer sozialen Struktur. Hier und nirgendwo sonst liegt auch die vorübergehende Nähe von Lévi-Strauss zum Marxismus begründet. Der Strukturalist wie der Marxist nimmt das Ganze in den Blick und sieht von allem bloß Subjektiven ab. Die Strukturen sind stets unendlich viel mächtiger als der Einzelne, der nur mehr als ein Kreuzungspunkt von Kraftlinien erscheint.
Wie die Linguisten die Atome der Sprache ermittelt haben, so macht sich Lévi-Strauss nun daran, die Atome der Gesellschaft zu ermitteln. Sein erster großer Gegenstand sind die Heiratsregeln. Wer wen heiraten darf und wer wen nicht, lässt sich – mit an die strukturale Linguistik angelehnten Methoden – auf mathematische Formeln bringen, die für ganz unterschiedliche Gesellschaften gelten.
Diese scharfsinnigen Untersuchungen müssen allerdings darauf vertrauen, dass sich die sozialen Strukturen nicht ändern. Das trifft bei den schriftlosen Kulturen, deren Regeln oft jahrhundertelang dieselben zu bleiben scheinen, zwar einigermaßen zu, verfehlt aber die Dynamik moderner Gesellschaften, in denen die Regeln des Zusammenlebens sich ständig verändern.
Viel besser funktioniert die Übertragung des linguistischen Modells auf einen an sich schon sprachlichen Gegenstand, nämlich die mythologische Erzählung. Seine Mythologica zeigen Lévi-Strauss als den glänzenden Analytiker, der er ist. Er untersucht Erzählungen aus aller Rhapsoden Länder und beweist so, dass Mythologien, so bizarr sie sich oft lesen mögen, einer erkennbaren Ordnung folgen. Nicht zuletzt in diesen Büchern erweist er sich als ein Gelehrter, der enormes Wissen mit kühner Deutung zu verbinden weiß.

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