Bad Kissingen

Disko und Dissens

Irgendwann ist nicht mehr eindeutig zu erkennen, wer im großen Saal des Hotels Frankenland mit wem tanzt. Dicht gedrängt bewegen sich rund 200 junge Männer und Frauen in Abendgarderobe, zu den Rhythmen der israelischen Showband Afifon. Diskoklassiker, russischer Pop, israelische Hits. Mitternacht ist längst vorbei, aber noch denkt keiner der Teilnehmer am Jugendkongress der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) daran, die Tanzfläche zu räumen.
Band und Publikum geben ihr Bestes. Nur gelegentlich halten kleine Gruppen inne. Dann werden Digitalkameras und Fotohandys gezückt, erleuchten Blitzlichter den halbdunklen Saal. Pärchen stellen sich in Pose. »Und jetzt lächeln!« Dieser Samstagabend, die gemeinsame Party, soll festgehalten werden. Für die meisten ist es der Höhepunkt des viertägigen Kongresses.
Von so viel Ausgelassenheit ist am Vormittag noch nichts zu ahnen. Der Tagungsort Bad Kissingen liegt im Halbschlaf der Nebensaison. Nur wenige Kurgäste spazieren auf der Straße, in den Cafés der Innenstadt ist die Hälfte der Tische verwaist. Nichts deutet darauf hin, dass nur wenige Straßen weiter teils hitzig diskutiert wird.
Im Tagungshotel hat Rabbiner Yaron Engelmayer seinen Einführungsvortrag noch nicht zu Ende gebracht, da wird schon heftig debattiert. Eine alarmierende Diagnose steht im Raum. »Wir sind im Be-
griff, uns selbst aufzulösen«, hat der Kölner Gemeinderabbiner zu Beginn seines Workshops »Die Bewahrung der jüdischen Identität als Minderheit« konstatiert.

Assimilation Engelmayer spielt auf die zunehmende Assimilation jüdischer Ge-
meinschaften in die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft an. Der Begriff der »schlei-
chenden Schoa« ist gefallen, auch wenn Engelmayer betont, sich diesen nicht zu eigen machen zu wollen. Denn nicht die Assimilation an sich soll im Mittelpunkt des Diskurses stehen, sondern die Frage, was Jüdischsein eigentlich bedeutet.
»Wir können Kant und Voltaire dafür danken, dass wir seit knapp 200 Jahren darüber nachdenken müssen, warum wir jüdisch sind«, glaubt Engelmayer. Dem leidenschaftlichen Appell eines Jugendlichen, dass nur das »Bewusstsein für die Traditionen« die Assimilation vermeiden kann, folgt direkter Widerspruch. Anderen ge-
nügt das Bekenntnis zum jüdischen Volk oder auch nur zum Staat Israel. »Das wichtigste ist a jiddische Mame«, wirft irgendwann ein Diskutant halb im Scherz ein.
Nach fast anderthalb Stunden Diskussion lässt Engelmayer die Jugendlichen zum Hammelsprung antreten. Die vier Ecken des Raumes stehen für verschiedene Präferenzen: Die Abstammung von einer jüdischen Mutter, das Bekenntnis zum jü-
dischen Volk, das Bekenntnis zum Staat Is-
rael sowie Tradition und Tora. »Welcher Aspekt ist euch am wichtigsten?«, fragt der Rabbiner. Die Brüche in der persönlichen Einstellung zum Judentum werden in diesem Moment sichtbar.
Einige Räume weiter muss sich Rabbinerin Gesa Ederberg anstrengen, um überhaupt zu Wort zu kommen. Im Workshop der 41-Jährigen »die Mizwot im 21. Jahrhundert« verläuft die unsichtbare Trennlinie zwischen der liberal-egalitären Rabbinerin und den größtenteils orthodoxen Ju-
gendlichen. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit sich die Mizwot an moderne Entwicklungen anpassen dürfen. Und für einige Jugendliche die Frage, ob es so etwas wie eine Rabbinerin überhaupt geben darf.
Feminismus »Glauben Sie nicht, dass die Entwicklung, dass wir heute Rabbinerinnen haben, ein Ergebnis des Feminismus ist«, fragt eine Studentin, wobei sie das Wort »Feminismus« so vorsichtig ausspricht, als könnte sie darüber stolpern. Ederberg verneint das nicht. »An ganz vielen Stellen«, sagt die Rabbinerin, »haben sich die Mizwot weiterentwickelt. Ich sa-
ge, das Frauen-Rabbinat liegt im Rahmen der jüdischen Möglichkeiten.« Verständnisloses Kopfschütteln verrät, dass sie nicht alle Jugendlichen überzeugen kann.
Am nächsten Tag steht die Frage nach den Erfolgsaussichten einer Einheitsgemeinde auf dem Programm. Eines der »Spaltungsthemen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft«, wie es die Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch in ih-
rer Ansprache formuliert. Auf dem Podium sitzen Vertreter des liberalen und orthodoxen Judentums, zu ihren Füßen ein Publikum mit ähnlich unterschiedlichen An-
sichten. Vizepräsident Dieter Graumann hält als umsichtiger Moderator die Ge-
sprächsfäden in der Hand. Nach den Auseinandersetzungen der vergangenen Tage, steht zunächst demonstrative Einigkeit im Vordergrund. »Wir alle die hier sitzen, beantworten die Fragen nach einer Wiedergründung der Einheitsgemeinde mit Ja«, betont Rabbiner David Bollag.

Konversionen Eine der vielen Streitfragen ist, wie streng Konversionen zu handhaben seien. Insbesondere am Beispiel jüdischer Einwanderer aus der Sowjetun-
ion, die oft nur väterlicherseits jüdische Wurzeln aufweisen, entzündet sich eine heftige Diskussion. »Darunter gibt es wirklich tragische Fälle, von Menschen die als Juden aufgewachsen sind, und denen jetzt von den Gemeinden die Anerkennung verweigert wird«, berichtet Rabbinerin Ederberg. Ein Argument, das Rabbiner Bollag nicht gelten lassen möchte. »Nicht in je-
dem Fall, in dem Tragik steckt, kann die Religion Purzelbäume schlagen.«
Am Samstagabend aber sind den Ju-
gendlichen all diese Brüche unwichtig. Die Musik von Afifon kittet die Risse. »Klar geht es auch darum, sich kennenzulernen«, sagt ein Jugendlicher aus Frankfurt. »Für uns Männer ist es ja nicht immer so einfach, eine jüdische Frau zu finden. Aber wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder als Juden aufwachsen, muss das sein.«

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