Neuerscheinung

Die postkoloniale Endlösung

Philipp Peyman Engel Foto: Marco Limberg

Neuerscheinung

Die postkoloniale Endlösung

JA-Chefredakteur Philipp Peyman Engel schreibt in »Deutsche Lebenslügen« über die gefährliche Allianz von linken und muslimischen Judenhassern. Ein exklusiver Buchauszug

 21.03.2024 19:52 Uhr

»Free Palestine from German guilt!«

Es ist ein kalter, sonniger Tag. Sie haben sich für diesen Mittwoch über TikTok und Instagram verabredet. Sie nippen an ihren Coffees to go, plaudern, haben sich mit Matcha, Wraps und veganem Gebäck versorgt. Die Stimmung ist gut. Fröhlich, kämpferisch. Wie auf eine stille Übereinkunft hin nehmen sie Platz auf Bürgersteig und Straße zur Mahnwache vor dem Auswärtigen Amt in Berlin-Mitte – bis hin zur Brücke über die Spree sitzen sie. Rucksäcke, Hoodies, »Palästinensertücher«.

»Stop, stop the Genocide!«

Sie protestieren, nur wenige Tage, nachdem die Hamas ein brutales und menschenverachtendes Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung begangen hat. Sie fordern nicht, dass Außenministerin Annalena Baerbock und die deutsche Regierung den Staat Israel und dessen Bevölkerung in seiner schwersten Stunde seit dem Jom-Kippur-Krieg unterstützen. Sie demonstrieren nicht dafür mitzuhelfen, die Geiseln zu befreien oder humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Stattdessen rufen sie: »Befreit Palästina von der deutschen Schuld.«

Es sind deutsche Bürgerkinder, die hier sitzen. Kinder, die von ihren Eltern, an ihren Schulen, im Laufe ihrer Sozialisation, Hunderte Male den Begriff »Holocaust« gehört haben. Und nicht etwa Schlägertypen mit tätowierten Hakenkreuzen an Händen und Hälsen. Kinder, die mit ihren Lehrerinnen und Lehrern Konzentrationslager besucht haben. Nicht etwa Wutbürger oder Abgeordnete und Aktivisten der AfD, die einen Schlussstrich unter den »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte ziehen möchten. Der Slogan klingt aber verdammt nah dran. (…)

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Es sind Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich selbst gern unter dem Begriff »postkoloniale Linke« subsumieren. Eine länderübergreifende Bewegung zumeist junger Leute, die auf das koloniale Erbe des Westens aufmerksam machen wollen. Völlig zu Recht. Der Globale Norden hat den Globalen Süden, Afrika, Lateinamerika sowie große Teile Asiens jahrhundertelang unterworfen, ausgebeutet, in Sklaverei und Abhängigkeit gehalten und Völkermorde begangen. Dieses Erbe lastet schwer auf vielen europäischen Ländern und natürlich auf den USA. Wir haben uns auf Kosten ganzer Kontinente bereichert und tun es noch. Wir nennen uns Industrienationen, und wir betrachten andere Völker und Nationen als »Dritte Welt« oder Schwellenländer.

Dafür sind wir verantwortlich.

In diesen Kontext will die postkoloniale Linke die aktuelle Lage im Nahen Osten einordnen. Sie betrachten den Staat Israel und sagen: Das, was Israel mit dem Volk der Palästinenser macht, steht in dieser Tradition. Nach ihrer Lesart ist Israel ein Kolonialstaat, der ein anderes Volk unterdrückt, beraubt, ermordet – einen Genozid und »ethnische Säuberungen« vollzieht. Und sie stellen die so einfache wie pervertiert verquere Frage: Warum sollen Gaza und das Westjordanland für die deutsche Vergangenheit bluten?

Es ist eine Frage, die den Kern der deutschen Erinnerungskultur berührt. Folgt man dem australischen Historiker und Vorreiter der postkolonialen Bewegung, A. Dirk Moses, bildet der Holocaust eine Version von Kolonialismus, ist also nicht mehr etwas Singuläres. Und als Folge überschatte die Erinnerung an den Holocaust die Erinnerung an die Opfer des Kolonialismus. Die Einordnung des Holocaust in eine Geschichte von Genoziden würde die Deutschen aus ihrer »einmaligen« Schuld befreien und ihnen einen vermeintlich unbelasteten Blick auf Israel erlauben. Aber haben wir uns nicht einmal darauf geeinigt, dass der Holocaust eben doch etwas Einmaliges ist? Ich möchte das hier nicht weiter diskutieren, denn das würde bedeuten, vor allen Leugnern zu kapitulieren.

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Die Themen der postkolonialen Linken sind breit gefächert. Sie verknüpfen sich mit Schlagworten wie Wokeness, Diversity, Cancel Culture oder Gender. Es geht um soziale Gerechtigkeit, Entkolonialisierung oder Cultural Appropriation: Sie betrachten es als eine fragwürdige kulturelle Aneignung, wenn sich weiße Menschen Locs, Braids oder Cornrows flechten, Frisuren, die mit Stolz in der Black Community getragen werden. Eigentlich könnte man das Tragen der Kufiya, des »Palästinen-sertuchs«, auf den Demos auch als Akt der kulturellen Aneignung verstehen. Aber okay. (…)

Der Instinkt der Linken bestand schon immer darin, für Palästina Stellung zu beziehen.

Das Problem dabei ist, so die Argumentation, nicht das Tragen der Symbole selbst, sondern das weit verbreitete Unwissen über ihren Ursprung. Was zu dem vielleicht wichtigsten Begriff im Diskurs der postkolonialen Linken führt: Awareness. Es geht vor allem darum, sich der Problematiken bewusst zu werden. Das sind große, wichtige Themen, denen sie sich verschrieben haben. Wäre da nicht dieser merkwürdige Blindfleck Israel. Die postkoloniale Linke ist jung, gut ausgebildet, professionell, polyglott und vor allem: über Social Media international vernetzt. Sie ist aber auch arrogant, einflussreich, laut, übergriffig und ultra-aggressiv.

Dabei stellen sie zum Teil ebenso einfache wie richtige Forderungen auf. Man soll Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, nicht fragen: Wo kommst du her? Schließlich wollen die Gefragten nicht als fremd wahrgenommen werden. Die Bewegung ist geprägt vom Kampf gegen den Rassismus. Ob »Black Lives Matter«, »Fridays for Future« – sie kämpft global und einigt sich auf postkolonial linke Werte. Im Grunde sprechen sich die Anhänger dieser Massenbewegung explizit gegen jede Form von Antisemitismus aus. Das gehört eindeutig zum Awareness-Kanon dazu.

Und dann stellen dieselben jungen Leute uns deutschen Juden die Frage: Ja, aber was passiert in Israel? Sie tun das Gegenteil dessen, was sie predigen: Vielleicht wollen manche von uns auch nur ganz normale Deutsche sein? Und nicht mit den Problemen und Geschehnissen in Israel gleichgesetzt und darauf reduziert werden? Wo ist der Unterschied zur Frage: Wo kommst du her? Sie setzen sich vors Auswärtige Amt, brüllen »Viva Palästina« und suchen den Schulterschluss zur propalästinensischen Straßenwalze in Neukölln, die eindeutig von Juden hassenden Organisationen wie Samidoun, von der Hamas und von radikalen Islamisten geprägt ist.

Der Instinkt der Linken bestand schon immer darin, für die Palästinenser Position zu beziehen. Diese Unterscheidung führte bei den 68ern zur Parteinahme für die PLO und andere arabische Terroristen, bei den Durchschnittslinken zur Distanzierung von Israel, und bei den postkolonialen Linken führt er zu einer Relativierung des Holocaust zugunsten der vermeintlich größeren Opfer durch die Kolonialpolitik. Das ist in Deutschland zu beobachten, aber, wie wir jetzt sehen, auch international. In Deutschland kommt hinzu, dass die Täter-Opfer-Umkehr eine historische Entlastung mit sich bringt. Und das genau ist der Dammbruch, dass alle unterschiedlichen linken Strömungen plötzlich zu erkennen geben, dass sie diese Schnittmenge verbindet: Sie alle sind gegen die Juden, ob hier oder dort. (…)

Da mag man den Spieß mal umdrehen: Habt ihr da selbst nicht ein massives Awareness-Problem? Und seid ihr euren Nazigroßeltern in einem Punkt nicht viel näher, als es euch lieb sein kann?
Freitagmorgen, Freie Universität, Berlin-Dahlem. »Kinder bombardieren ist nicht Selbstverteidigung« und »Stoppt den Genozid in Gaza« steht auf den Spruchbändern. Es ist eine »palästinasolidarische« Zusammenkunft von rund 150 jungen Menschen. Dazu aufgerufen hatte eine marxistische Gruppe namens »Klasse gegen Klasse«, erkennbar an den roten Fahnen. Eine Rednerin ergreift ein Mikro und das Wort. (…)

Man grenzt sich ab von der Hamas – und verteidigt sie sogleich. In dem an die Freie Universität gerichteten Aufruf von »Klasse gegen Klasse« heißt es: »Wir fordern die FU auf, eine Erklärung zu veröffentlichen, die den Krieg gegen Gaza als Völkermord und den israelischen Staat als das bezeichnet, was er ist: Apartheid.« Die altbekannte Melodie des Antisemitismus: Ja, aber.

Einige Meter abseits hat sich eine kleine Gruppe Gegendemonstranten versammelt. Ein winziges Dutzend. Sie schwenken wacker Israelfahnen und hängen an den Schlachtruf »Free Palestine« aus leiser Kehle: »… from Hamas«. Ein Demonstrant trägt Kippa und singt: »Am Yisrael Chai.« Das Volk Israel lebt.
Allein. (…)

Es ist eine unheilige Allianz: Die postkoloniale Linke verschwistert sich mit antisemitischen muslimischen Migranten. Völlig unverblümt teilt sie ihren Judenhass. Es ist klassischer Antisemitismus in neuen Gewändern, und er hat katas­trophale Folgen. (…) Zwischen dem 7. Oktober und 9. November 2023 meldet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin einen Anstieg von antisemitischen Straftaten um mehr als 300 Prozent. Als Folge des Nahostkonflikts sind in Deutschland im letzten Jahr innerhalb von zwei Monaten mehr als 4000 islamistische Straftaten verübt worden. (…)

»Was soll mit Israelis passieren, wenn ihr ›Intifada bis zum Sieg‹ ruft?«

Anna Staroselski

»Viva, viva Palästina.« Die Rufe werden leiser. Kraftloser. Irgendwann löst sich die Kundgebung vor dem Auswärtigen Amt, die als fröhliches Sit-in begann und als glasklarer Schulterschluss mit muslimischem Judenhass endet, von allein auf. Die deutschen Bürgerkinder sind müde, die Vorräte sind aufgebraucht, und es wird auch kalt. Die Aufmerksamkeitsspanne einer Generation: Heute »Viva Palästina« rufen, morgen ruft die Uni, das Praktikum, die Werbeagentur.

Aber was bedeutet es eigentlich, konse-quent zu Ende gedacht, was sie den ganzen Tag gerufen haben? Was bedeutet es genau, »From the River to the Sea« zu fordern?

Es bedeutet: die Endlösung. In Israel gibt es keinen Platz für Israelis. Keinen Platz für Juden. So wie fast im gesamten Nahen Osten. Judenreines Gebiet. Bravo. Ich weiß nicht, ob sie sich darüber im Klaren sind oder ob es nur »voll« im Trend liegt. Die Hamas, Hisbollah und der Iran sind sich darüber schon im Klaren. Für sie haben die jungen Leute heute demons­triert.

An einem dieser kalten Herbsttage lese ich einen Post auf X: »Was ist eigentlich los mit ›progressiven‹ Studierenden in der Welt? Es ist schlimmer, missgendert zu werden, als die Auslöschung Israels zu fordern? Vergewaltigungen sind auch ok, solange Jüdinnen die Opfer sind?«

Er stammt von der Journalistin und ehemaligen Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Anna Staroselski.

»Was soll mit Israelis passieren, wenn ihr ›Intifada bis zum Sieg‹ ruft?«
Ich bin nicht allein.

Philipp Peyman Engel, mit Helmut Kuhn: »Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch«. dtv, München 2024, 192 S., 18 €

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