Welt-Sicht

Der große Graben

von Götz Nordbruch

Ein Jahr nach den Anschlägen von London bleibt die Frage nach den Motiven unbeantwortet. Die Namen der Täter vom 7. Juli 2005 waren nach wenigen Tagen bekannt, doch ihre Biographien gaben wenig Aufschluß über die Hintergründe ihres religiösen Fanatismus. Ihre Lebensläufe werfen mehr Fragen als Antworten auf. Die jungen Männer lebten in England, ihre Kindheit und Jugend unterschied sich kaum von der ihrer nichtmuslimischen Nachbarn. Sie kamen, so stellte man erschrocken fest, aus der Mitte der Gesellschaft.
Vertreter islamischer Organisationen traten nach den Anschlägen an die Öffentlichkeit, um auf die Gefahren einer drohenden Entfremdung von Muslimen und Nichtmuslimen hinzuweisen. Am Jahrestag der Anschläge wandte sich jetzt Scheich Abu al-Muhsin al-Abikan, ein Berater der saudischen Regierung, an die Muslime im Westen. »Ich rate den muslimischen Brüdern, die in Großbritannien, im Westen oder sonstwo auf der Welt in einem nicht-islamischen Land leben, sich vor all jenen in acht zu nehmen, die sich mit der Behauptung unter die Muslime mischen, sie würden den wahren Islam praktizieren. In einem Beitrag für die in London erschei- nende Tageszeitung al-Sharq al-Awsat erklärte al-Abikan: «Diese Leute streben danach, die Beziehungen zwischen den Mus- limen und den Gastländern, in denen diese Muslime ihr Leben verbracht haben, zu verderben. Die Taten dieser Leute richten sich gegen die Interessen der Muslime und gegen die Beziehungen zum Gastland und zu deren Bürgern. Sie trüben das Bild der Muslime unter der nicht-muslimischen Bevölkerung, und sie stellen die Rechte, die die Muslime erworben haben, in Frage.»
Gemeinsamkeiten im Alltag sind allerdings ebensowenig wie die Gewißheit weitgehend gleicher Rechte eine Gewähr gegen Islamismus. Dies ist das Ergebnis einer Studie in einer Reihe islamischer und nichtislamischer Länder. Danach unterscheiden sich die Meinungen und Einstellungen europäischer Muslime zwar deutlich von jenen in islamischen Ländern. In vielerlei Hinsicht äußern sich Muslime in Europa deutlich positiver über den Westen und den mit ihm in Verbindung gebrachten Werten und Lebensstilen. Grund zur Entwarnung ist dies dennoch nicht. Denn auch unter muslimischen Bürgern Europas finden radikale Vorstellungen Zuspruch.
Das in Washington ansässige «Pew Global Attitudes Project» hat repräsentative Umfragen in 13 westlichen und islamischen Ländern ausgewertet. Neben Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien wurden dabei in der Türkei, Indonesien, Ägypten und Nigeria Befragungen zur gegenseitigen Wahrnehmung von Muslimen und Nichtmuslimen durchgeführt. Eins der wichtigsten Ergebnisse der Studie liegt in dem in mehreren Ländern spürbaren Rückgang der Zustimmung, mit der auf Anschläge im Namen des Islam reagiert wird. Ähnlich wie in Indonesien, dem bevölkerungsstärksten islamischen Land, lehnte auch in Pakistan und Jordanien eine deutliche Mehrheit Anschläge gegen Zivilisten grundsätzlich ab. In Jordanien hatten im Frühjahr 2005 noch 57 Prozent der Befragten angegeben, solche Anschläge seien «oft» oder «manchmal» gerechtfertigt. Bei der nun durchgeführten Umfrage teilten nur noch 29 Prozent diese Ansicht. In Indonesien und Pakistan sprachen sich jeweils etwa 70 Prozent grundsätzlich gegen solche Anschläge aus. Unter europäischen Muslimen ist diese Ablehnung kaum niedriger, in manchen Ländern sogar noch ausgeprägter – mit 83 Prozent ist sie unter Muslimen in Deutschland am höchsten.
Ähnlich sind die Ergebnisse hinsichtlich der Wahrnehmung des Westens. Auch hier kommt den europäischen Muslimen eine Mittelposition zu, die sich in deutlich positiveren Zuschreibungen äußert. Eigenschaften wie «großzügig» oder «respektvoll gegenüber Frauen» werden von Muslimen in Europa fast doppelt so häufig mit Menschen im Westen in Verbindung gebracht wie von Muslimen in islamischen Ländern. Umgekehrt beschreiben fast zwei Drittel der Befragten in Ägypten und Jordanien die Menschen im Westen als «unmoralisch». Nur ein Drittel der Muslime in Deutschland oder Frankreich teilt diese Einschätzung.
Die Unterschiede drücken sich auch in einer deutlich positiveren Wahrnehmung von Christen und Juden aus. 28 Prozent von Frankreichs Muslimen äußern Vorurteile gegen Juden, in Jordanien sind es 98 Prozent. Auch antisemitische und antiwestliche Verschwörungstheorien sind weit verbreitet. So glaubt nur eine Minderheit aller befragten Muslime daran, daß die Anschläge vom 11. September 2001 von arabischen Terroristen ausgeführt wurden. Der niedrigste Wert liegt bei 15 Prozent (Pakistan), der höchste bei 48 Prozent (Frankreich).
Insgesamt äußern sich britische Muslime wesentlich kritischer über ihre nicht-muslimische Umgebung als Muslime in den anderen untersuchten europäischen Ländern. Während die große Mehrheit der in Spanien (70 Prozent) und Frankreich (65 Prozent) befragten Muslime die Westler als «tolerant» bezeichnet, wird dies in Großbritannien nur von 48 Prozent geteilt. Erstaunlich, wenn man berücksichtigt, daß umgekehrt in der britischen Öffentlichkeit Mus- lime deutlich wohlwollender beurteilt werden als in Deutschland oder Spanien. So bezeichnen 45 Prozent der Franzosen und 35 Prozent der Briten Muslime als «tolerant», während diese Einschätzung in Deutschland und Spanien nur von einem Fünftel der Befragten geäußert wird.
Im europäischen Vergleich äußern sich Deutsche am kritischsten über eine mögliche Einwanderung aus den überwiegend muslimischen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. 59 Prozent der Deutschen sehen in einer solchen Einwanderung eine «schlechte Sache», während lediglich 41 Prozent der Franzosen und 32 Prozent der Briten diese Einschätzung teilen. Dazu paßt ein anderes Ergebnis: Rund 78 Prozent der Deutschen beschreiben Muslime als «fanatisch», für «gewalttätig» halten sie 52 Prozent der Befragten.
Trotz der positiven Veränderungen, die in der Pew-Studie im Vergleich zu vorangegangenen Untersuchungen beschrieben werden, weisen gerade die Ergebnisse in Deutschland darauf hin, daß sich die gegenseitig bestehenden Vorurteile kaum mit einem Hinweis auf ein gutes Zusammenleben verändern lassen. Während sich Muslime in Deutschland im europäischen Vergleich deutlich moderater gegenüber ihrer nicht-muslimischen Umwelt zeigen, ist es gerade die deutsche Öffentlichkeit, die Muslimen mit besonderem Mißtrauen begegnet. Trotz starker Vorbehalte, die auch in Großbritannien und Frankreich gegenüber Muslimen bestehen, ist die Situation hier umgekehrt.
Vor dem Hintergrund der Anschläge in London hat dies auch etwas Erfreuliches: Der Terrorakt hat das Bild der Muslime in der britischen Öffentlichkeit nur unwesentlich verschlechtert. Mit Bezug auf Deutschland stimmt das Ergebnis pessimistisch. Trotz des Fehlens von ernsthaften Konflikten zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen hält sich die Wahrnehmung von Muslimen als «fanatisch» und «gewalttätig» auf hohem Niveau.
www.pewglobal.org/reports/display.php?ReportID=253

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